INTERVIEWfür fgi news, „Macht“; eine Koproduktion mit Theresia Volk
Ein Exklusivinterview mit François Jullien, einem der bedeutenden Denker unserer Zeit. Wir haben den Philosophen, Sinologen, Professor für ostasiatische Sprachen und Kulturen und Direktor des „Institut des la Pensée Contemporaine“ (Institut für zeitgenössisches Denken) in Paris besucht, um ihn über „chinesisches Denken“, „Macht“ und „Wirksamkeit“ zu befragen.
Monsieur Jullien, schildern Sie zunächst bitte kurz Ihr Denkprogramm:
Was verstehen Sie unter „dem Umweg über China“?
Als ursprünglich hellenistischer Philosoph habe ich mich dazu entschieden, mein besonderes Augenmerk China und dem chinesischen Denken zu widmen. Man muss verstehen: China hat einen ganz anderen Zivilisationskontext, es befindet sich ganz außerhalb unserer europäischen Geschichte und unserer europäischen oder vielmehr indoeuropäischen Sprache. Ich wollte und will diese Exteriorität finden und mir zu Nutze machen, um das europäische Denken neu zu beleuchten, zu befragen, zu verstehen. Ich glaube nämlich, dass wir immer wieder an unserer Vernunft arbeiten sollten. China ist ein sehr guter Außenstandpunkt, der es uns ermöglicht, unsere europäische Vernunft zu hinterfragen.
Sie verwenden dafür den Ausdruck „Umweg-Rückkehr“ (détour-retour).
Es geht darum, sich einerseits von den großen europäischen Philosophen, von ihrer Sprache und ihren Begriffen wie Gott, Sein und Freiheit abzuwenden; und sich dann – über den Umweg China – diesem europäischen Denken neu zu nähern. Der Umweg über China verläuft also in einer Endlosschleife. Es ist keiner, bei dem man sicher sein kann, irgendwann wieder in aller Ruhe nach Hause zurückkehren. Das chinesische Denken ist beunruhigend.
Uns interessiert besonders das Thema „Macht und China“. Was ist Macht aus der fremden, exterioren, klassisch-chinesischen Perspektive?
Macht ist im klassischen China ein bedeutender Begriff. Es ist allerdings sehr wichtig, dabei die großen antiken Denkschulen mit ihren verschiedenen Tendenzen zu beachten. So gibt es einerseits die Tradition, nach der Macht zum Einzigen geworden ist, für das es um die Menschheit geht. Und zwar im Zusammenhang mit einer Tendenz, die man als die der „Legisten“ bezeichnet (vielleicht sollte man aber lieber, exakter von „Totalitaristen“ oder „Autoritaristen“ sprechen). Es handelt sich hierbei um die Schule der Antike, unter deren Einfluss der erste chinesische Kaiser das chinesische Kaiserreich 221 v. Chr. begründet hat. Diese Denkschule denkt tatsächlich nur an Eines, nämlich an die Macht: Wie kann man es einrichten, dass ein Prinz so viel Macht wie nur irgend möglich hat? Vereinfachend zusammengefasst lautet die Antwort: Macht hat, wer Angst erzeugen und Belohnungen verteilen kann. Mit „Belohnungen“ geht man auf Interessen ein, durch „Strafen“ wird Angst erzeugt. Man wirkt auf die natürlichen Gefühle der Menschen, auf die Gefühle des Volkes ein – ausgehend von der Position einer Person, die die Autorität innehat.
Die Idee, die schon damals in China entwickelt wurde, kennen wir heute nur zu gut: Die Macht, das ist Wissen. Wer weiß, was in seinem Prinzenreich passiert, wer weiß, wo gerade ein Komplott geschmiedet wird, wo gerade ein Streit stattfindet etc., der hat die Macht. Vielleicht ist Ihnen das Buch von Michel Foucault bekannt, Überwachen und Strafen (Surveiller et punir). Er beschreibt darin ein Instrument, das bewirkt, dass derjenige, der die Macht innehat, alles sehen kann. Auch wenn der Bewacher gerade nicht da ist, denkt der Überwachte, er könne möglicherweise gerade überwacht werden – und folglich bleibt er artig. Dieses Instrument ist ganz wichtig für das Machtdenken in China.
Sie sagen: Der Ausgangspunkt dieser Denkschule ist der Autoritarismus oder Totalitarismus. Können Sie das bitte erläutern?
Vom Denken Taos ausgehend, lautet die Idee, dass das Gehorchen desto stärker ausgeprägt ist, je natürlicher und spontaner es stattfindet. Die Maschinerie der Macht ist also eine Maschinerie des Gehorchens. Und das Gehorchen funktioniert desto besser, je weniger die Menschen bemerken, dass sie gerade dabei sind zu gehorchen. Wenn die Menschen nur ein bisschen und nur ab und zu unterdrückt werden, dann werden sie deshalb auf die Barrikaden gehen. Doch wenn die Menschen die ganze Zeit, permanent, überall unterdrückt werden, dann glauben sie, das sei ganz natürlich und könne gar nicht anders sein. Die Menschen bemerken dann die Unterdrückung gar nicht mehr. Sie denken, das sei ganz selbstverständlich, in etwa so selbstverständlich wie der Tod. Und auch gegen den Tod geht ja niemand auf die Barrikaden.
Die Bedingungen für einen möglichen Widerstand müssen also förmlich getilgt werden, so dass das Gehorchen ganz selbstverständlich ist, weil es gar keine Möglichkeit zum Widerstand mehr gibt.
Um die fortwährende Unterdrückung zu gewährleisten, muss man aber die Bedingungen permanent gleich halten. Sobald zum Beispiel das Volk zu ein wenig Reichtum gelangt ist, muss man diesen Reichtum verschwinden lassen, etwa über die Funktion des Krieges, die es ermöglicht, dass man alles, was an Überschuss vorhanden ist, loswird.
Das Volk muss also ständig in Unterdrückung gehalten werden, das heißt: Die Leute müssen arme Tagelöhner und Bauern bleiben. Denn Arbeit erzeugt Reichtum, und der erzeugt immer Überfluss, der dem Handel, dem Austausch und Zirkulieren der Ideen zugute kommt. Handeln und Denken aber würden sich der Immanenz der Macht in den Weg stellen. Die Händler und die Intellektuellen würden davon abhalten, dass gehorcht wird. Also muss der Prinz darauf achten, dass jeglicher Überschuss augenblicklich beseitigt wird, um die fortwährende Unterdrückung fortsetzen zu können. Es darf zu keiner Bildung von sozialen Kategorien kommen, die diese „Immanenz der Macht“-Logik stören würde.
Auf diesem sehr einfachen, sehr radikalen, totalitären Machtgedanken wurde das Kaiserreich China gegründet.
In Ihrem Buch „Über die Wirksamkeit“ beschreiben Sie aber auch die Tradition/Position des chinesischen Strategen: Er, der Weise, schaut immer auf das Potential einer Situation. Ihm geht es nicht darum, Menschen zu manipulieren, oder?
Da muss man vorsichtig und sehr geduldig sein. Denn es gibt eine gemeinsame Begriffsverwendung im autoritären Denken, das ich gerade vorgestellt habe, und im strategischen Denken, was Sie jetzt hier ansprechen. Dabei handelt es sich um den Begriff „shi“. Dieser Begriff wird von den beiden Traditionen verschieden aufgefasst.
Beim Strategie-Konzept lautet der Grundgedanke: Der Stratege bemerkt in einer Situation das Potential eben dieser Situation. Und dann gestaltet er allmählich die Situation so, dass sie sich „neigt“, „zu seinen Gunsten verändert“, und sich letztlich wie ein Abhang auftut, den hinab die Auswirkungen ihren Lauf nehmen.
Dasselbe Konzept wird im autoritaristisch/totalitaristischen Denken radikalisiert, und zwar so: Das Potential der Situation wird zur Autorität, die der Prinz innehat – letztlich geht es um den Thron, von dem aus die Macht monopolisiert wird.
Der gemeinsame Zug beider Denkschulen besteht darin, dass es auf die Position ankommt, von der aus die Auswirkungen losgetreten werden. Das kann man vom autoritaristischen Prinzen genauso gut wie vom Strategen sagen. Wenn Sie in der Lage sind, das Potential der Situation auszunutzen, dann brauchen Sie weiter nichts mehr zu tun. Auf der politischen Ebene beispielsweise kann der Prinz ganz beruhigt seinen Urlaub antreten, wenn seine Autorität klar für alle feststeht. Dann wird auch während seiner Abwesenheit die Position, die er innehat, ihre Wirksamkeit behalten.
Können Sie diese Form der chinesisch-strategischen Wirksamkeit noch etwas klarer machen: Der Stein gerät ins Rollen, und die Wirkung tritt ein, weil die Waage sich neigt?
Die strategische Vorstellung von Macht und die autoritäre Vorstellung von Macht gehen letztlich auf dasselbe zurück: dass der Sieg strategisch ist und sich das politische Gehorchen als eine ganz natürliche Folge ergibt.
Und dass das Ganze sehr diskret verläuft, ohne dass man es überhaupt bemerkt. Die Wirksamkeit besteht also darin, dass man im Vorfeld die Bedingungen für einen möglichen Widerstand beseitigt.
Das ist etwas völlig anderes als unsere westliche Heldenorientierung: der Kampf gegen Widerstände. Wirksamkeit hat im chinesischen Denken nichts mit Heldentaten zu tun. Die chinesische Idee besteht darin, sich immer auf die Situation zu stützen. Es ist immer wieder die Idee des Potentials einer bestimmten Situation.
Und wenn eine Situation es nicht zulässt zu handeln, dann heißt das: abwarten statt aktiv werden?
Eine Bedingung der Macht ist, dass man nichts mehr zwingen muss.
Wenn eine Situation Widerstand leistet und Sie dann mit Ihrer Aktion beginnen, werden Sie auf diesen Widerstand stoßen. Sie müssen da mit Gewalt ran, Sie müssen die Situation zwingen. Das kann eine Heldentat sein, sie ist aber nur wenig wirksam.
Also, was muss man dann tun? Man muss die Situation reifen lassen. Man muss die Situation so gestalten, dass sie sich immer mehr zu Ihren Gunsten hin entwickelt – und dass Sie Ihre Aktion erst dann starten, wenn die Neigung endgültig positiv in Ihre Richtung zeigt. Der große chinesische Grundgedanke, der eigentlich gar keiner ist, lautet: mit dem Kampf erst zu beginnen, wenn Sie bereits gewonnen haben.
Er steht damit in krassem Gegensatz zu einer anderen Idee, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte europäische Denken zieht, und die besagt, dass ein Krieg immer an sehr viele Unwägbarkeiten gebunden ist.
Der chinesische Stratege sagt: Ein Krieg ist vielmehr immer das Ergebnis der Bedingungen eines Situationspotentials – die zugleich als die Faktoren wirken, von denen ich mich tragen lassen kann.
Nicht der Gegner ist also zu bearbeiten, sondern der Kontext?
Weil der Gegner ein Faktor des Kontexts ist. Die Chinesen wissen: Nicht alles hängt von mir allein ab. Die Situation ist reich an möglichen Entwicklungen. Die Situation hat an und für sich ein Potential, das sich zu Gunsten des anderen oder zu meinen Gunsten auswirken kann.
Einer der großen chinesischen Gedanken lautet: Man muss auf der Ebene der Bedingungen eingreifen – und sich nicht durch Zielsetzungen leiten lassen.
Wir in Europa dagegen setzen uns dauernd Ziele, Ziele, Ziele ...
Klar. Jedes Unternehmen, jeder Manager wird an Zielen gemessen.
Das ist die große, abendländische Idee (z.B. von Clausewitz entwickelt): Man muss sich erst ein Ziel setzen und dann nach den Mitteln suchen, die es einem ermöglichen, das Ziel auf möglichst direktem Wege zu erreichen. Die Gleichung in der europäischen Denktradition lautet also: Wirksamkeit besteht darin, die direktesten Mittel zu finden, die einem zum Ziel verhelfen. Das ist eine Vorstellungsweise, die sich sehr stark von der chinesischen unterscheidet.
Ein Beispiel. Das Ziel lautet: Innerhalb von drei Monaten muss die Arbeitslosigkeit um soundsoviel Prozent zurückgegangen sein. Man erzwingt dann durch ein paar Aktionen ein bisschen die Situation, und in der Tat wird die Arbeitslosigkeit etwas zurückgehen. Aber dann wird sie wieder ansteigen.
Die andere, chinesische Vorstellungsweise besteht darin, im Vorfeld, sozusagen stromaufwärts (im Sinne von „näher an der Quelle“) auf die Bedingungen einzuwirken, also z.B. wieder Vertrauen zu schaffen, Kreativität zu fördern und damit die Wirtschaft wieder anzukurbeln. So dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit sich als eine Konsequenz daraus ergibt.
Also: Stromaufwärts (oder auch: an den Wurzeln) wird etwas verändert, stromabwärts (oder auch: an den Zweigen) erhält man daraus die Wirkung, ganz ohne Kraftakt.
Können oder wollen wir uns dieses Quellen- oder Wurzel-Denken in unseren europäischen Demokratien vielleicht nicht leisten?
Nach dieser Auffassung gibt es ein fundamentales Problem mit der Demokratie. Demokratie muss nämlich zumindest teilweise in der Öffentlichkeit stattfinden. Sie braucht Programme, Modelle der Zielerreichung, Umfragen usw. Sie braucht Ziele, die klar und für alle sichtbar sind, damit die Menschen mobilisiert werden. Damit Wahlen stattfinden können, damit diskutiert und debattiert werden, damit Widerstand geleistet werden kann. Damit die Demokratie sich organisieren kann.
Und der Gegenansatz wäre, etwas in Stille reifen zu lassen, ohne Debatte, sozusagen undemokratisch?
Man kann vieles öffentlich darlegen, aber die Fähigkeit, im Vorfeld, an den Wurzeln ganz diskret etwas an den Bedingungen zu drehen, das ist einfach nicht spektakulär. Etwas reifen zu lassen, das kann man nicht in den Rhythmus einer Demokratie hineinbringen, mit den Wahlen, den Umfragen usw.
Dafür ist in dieser Logik weniger Platz. Sie können mit der diskreten Art und Weise, allein auf die Bedingungen hin einzuwirken, nicht auf die sofortige Zustimmung der Bürger hoffen.
Ist das chinesische Denken per se nachhaltiger – und deshalb zukunftsgerichteter als „unseres“?
Ich hätte jetzt fast gesagt: Ich fürchte, ja.
Wir müssen hier allerdings noch einmal ein klein wenig philosophisch werden. Wir müssen nämlich verstehen, dass es letztlich um eine ganz grundlegende Entscheidung geht, die im europäischen Denken getroffen wurde und ursprünglich von den Griechen her stammt: das Denken des „Seins“, aus dem sich das Denken in Modellen und vorgegebenen Modellen und Formen ableitet.
China hingegen ist in seiner Denkweise nie vom „Sein“ ausgegangen. Sondern immer von „Fähigkeit“– vom „de“. Wie sieht somit für den Chinesen das Reale aus? Es ist Energie, die eingebracht wird; Energie für eine Fähigkeit, die man einsetzt. Wenn Sie sich die Welt vorstellen und dabei immer in Betracht ziehen, welche Fähigkeit für etwas eingesetzt wurde, das ist dann also letztlich wieder etwas, das mit dem Potential einer Situation zu tun hat, und dann kommen Sie dabei zu folgender Frage: Wie kann man diese Fähigkeit nachhaltig gestalten? Wie kann man sie nicht ganz erschöpfend aufbrauchen und wie kann man dafür Sorge tragen, dass sie sich aus sich selbst heraus erneuert?
Was wir heute unter nachhaltiger Entwicklung verstehen, vor allem auf der Ebene der Ökologie betrachtet, ist in China eine klassische Begrifflichkeit. Ich möchte damit nicht sagen, dass die Chinesen heute viel für die Ökologie tun, aber ich möchte damit sagen, dass die Einstellung, auf nachhaltige Entwicklung Acht zu geben, eine alte Idee ist, die es in der chinesischen Politik schon sehr lange gegeben hat.
Im politischen Denken der Antike sagt man: Zu dieser oder jener Jahreszeit dürfen Sie das Holz nicht schlagen. Die Fischernetze müssen Maschen haben, die groß genug sind, damit die kleinen Fische wieder herausschwimmen können. Etc. Also: Die Ressourcen, die uns die Natur gibt, sind zu respektieren.
Das klassische chinesische Denken fokussiert also darauf, die Bedingungen zu verbessern und die „Fähigkeit“ zu pflegen?
Ungefähr. Ich muss aber wieder präzisieren und möchte ein ganz klares Beispiel aus der Medizin geben. Was bewirkt die abendländische Medizin? Sie heilt die Krankheit, wenn sie bereits da ist. Sie greift auf schwerwiegende Art und Weise ein, um die Krankheit in ihre Schranken zu verweisen. Es wird operiert, es werden Eingriffe vorgenommen. Etc.
Was macht hingegen die chinesische Medizin? Sie heilt sanft und im Vorfeld, bevor überhaupt das erste Symptom zu sehen ist. Etwas ist dereguliert und wird wieder in Ordnung gebracht, ohne große Aktion. Die chinesische Medizin hält den Menschen bei guter Gesundheit. Durch Akupunktur, durch Umstellung der Ernährung etc. Sie pflegt Ihr Lebenspotential. Denn mein kleinstes mögliches Situationspotential, das ist mein Lebenspotential, das es folglich zu pflegen und zu erhalten gilt, das nachhaltig gemacht werden muss.
Es geht den Chinesen immer um die Bedingungen, auch um die der Gesundheit, auf die wird Einfluss genommen. Es geht darum, das Gesundheitspotential zu pflegen und so zur Langlebigkeit zu gelangen. Die Chinesen hatten nämlich nie diesen großen Traum, der natürlich wirklich wunderschön ist: den der Ewigkeit, der Unsterblichkeit der Seele, usw. Den Chinesen geht es um Langlebigkeit.
Der chinesische Grundgedanke ist also immer derselbe, ob es um die Frage der Macht, um Strategie oder um Medizin geht?
Er lautet: Ich greife diskret ein, indem ich so früh wie möglich an den Bedingungen drehe; zu einem Zeitpunkt, da ein Faktor noch ganz schwach entwickelt, kaum wahrnehmbar ist. Der Widerstand leistende Faktor ist noch ganz klein, er ist nur ein Ansatz zum Widerstand, und der Widerstand wird so gleich zu Anfang so gut wie möglich im Keim erstickt.
Dann habe ich nichts, was belastend ist, dann muss ich die Situation nicht zwingen, dann muss ich nicht einmal handeln. Ich habe nur ganz leicht, minimal an den Bedingungen zu drehen, zu einem Zeitpunkt, da diese gerade eben erst sichtbar werden. Mein Eingriff ist ganz dezent. Dieser Aspekt des Dezenten, der Subtilität ist ganz wichtig.
Wenn Sie also genau zum richtigem frühen Zeitpunkt eingreifen, also immer noch im Vorfeld, dann haben Sie im Grunde so gut wie gar keinen Aufwand mit Ihrem Eingriff, denn der Faktor ist noch ganz klein und weich, noch nicht hart und starr.
So entstand dieses für das chinesische Denken so wichtige und interessante Thema, nämlich das „Nicht-Handeln“, das Unterlassen des Handelns - um mehr Wirksamkeit zu erzielen.
Wenn wir einmal in die Wirtschaftsorganisationen schauen, dann haben doch viele Führungskräfte dort einen konkreten Veränderungsauftrag. Man schickt sie auf einen Posten, damit sie schnell eine Veränderung herbeiführen. Was raten Sie denen?
Ich bin im Hinblick auf Geheimrezepte und Vereinfachungen grundsätzlich sehr misstrauisch, was die Verwendung des chinesischen Denkens angeht. Trotzdem verstehe ich Ihre Frage, die mir übrigens auch in Frankreich häufig von Geschäftsführern etc. gestellt wird: Wie kann man eine Situation verändern? Wie kann man diese Veränderung anleiten? Ich würde sagen, es gibt zwei Arten, eine Situation zu verändern und diese Veränderung anzuleiten, und zwar ausgehend von den zwei Konzepten: 1) Modellschaffung und 2) Reifung.
Die Modellschaffung besteht im Entwurf einer Idealform, die als Ziel festzulegen ist. Und dann muss man nach den Mitteln suchen, die auf dem direktesten Wege zu diesem Ziel führen. Das ist typisch europäisch.
Die andere Art und Weise wird von China entwickelt. Da geht man von der Situation aus, nicht von einem Projekt, nicht von einer idealen Vorstellungsweise, die ich für mich entworfen habe, und die ich dann auf die Situation projizieren könnte. Es geht also nicht um das Projizieren, sondern allein um das Aufspüren der in einer Situation möglicherweise positiven Ansätze. Also: die möglichen Ansätze aufspüren, die begünstigenden Faktoren ausmachen und sie reifen lassen.
Etwas konkreter, bitte.
Nehmen wir noch einmal die Kriegführung als Beispiel: Wenn der Feind ganz erholt auf dem Schlachtfeld erscheint, dann sorgen Sie bitte erst einmal dafür, dass er müde wird. Wenn er als eine Einheit gegen Sie antritt, zerstören Sie bitte an erster Stelle diese Einheit. Wenn er gesättigt gegen Sie antritt, lassen Sie ihn erst einmal aushungern. Es geht also immer darum, bereits im Vorfeld einzugreifen, an den Bedingungen zu drehen, sodass das Potential Ihres Gegners zunehmend geschwächt wird, während Ihr eigenes Potential gerade deshalb umso stärker wird. Es geht immer nur um das Umwandeln, um Transformation. Der Feind tritt Ihnen erholt entgegen, das müssen Sie ändern. Die Situation muss sich allmählich beugen, damit sie sich begünstigend für Sie darstellt; damit sich immer mehr dazu eignet, einen Wandel zuzulassen.
Woher kommt denn eigentlich dieses Vertrauen auf die Reifung?
In China, dieser großen Zivilisation, wird immer an das uns etwas befremdende, doch für die Chinesen ganz natürliche Phänomen des Reifens gedacht. Denn China ist ein Land der Bauern. Keine Nomaden, keine Viehzüchter, sondern eben tatsächlich Bauern, die das Land bestellen, also Pflanzen züchten. Die Pflanzenzucht stellt das wichtigste anthropologische Motiv dar, und denken Sie dabei ruhig noch einmal an die Bemerkung zurück, die hier ganz zu Anfang eingebracht wurde: Eine Pflanze anzubauen, das ist keine Heldentat.
Man sollte deshalb auf keinen Fall an den Setzlingen ziehen, die auf dem Feld stehen, denn das Wachsen der Pflanze vollzieht sich in der Situation. Der Samen ruht in der Erde und verlangt von ganz allein danach, zu wachsen. Und der Samen ist letztlich nichts anderes als eben der Ansatzpunkt, aus dem sich begünstigende Faktoren bilden. Wenn Sie also an den Setzlingen ziehen, erreichen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie eigentlich erreichen wollten: einen Widerstand. Es geht aber darum, den Prozess zu befördern: Nicht an den Setzlingen ziehen! Keine Heldentat begehen!
Haben wir zu viel an den Setzlingen gezogen, wenn man sich die Finanz- und Wirtschaftskrise anschaut, die uns seit Ende des letzten Jahres so massiv betrifft?
Das scheint mir ganz offensichtlich so zu sein. Schauen Sie sich nur einmal an, wie sich China die Krise zu Nutzen macht. China zieht nicht an den Setzlingen, sondern profitiert vom Situationspotential. Aber China behält das natürlich lieber für sich, dass die Krise ihm gerade recht kommt.
Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel für typisch chinesische Strategie aus dem chinesisch-französischen Verhältnis geben: Wissen Sie, wie ausländische Staatsoberhäupter in Frankreich einreisen? Die meisten kommen immer erst hier in Paris an. Die chinesischen Staatsoperhäupter hingegen steuern als erstes Toulouse an. Warum? Weil sie dann erst einmal Gelegenheit haben zu versprechen, dass sie vielleicht Flugzeuge kaufen werden. Wenn sie anschließend nach Paris fahren, dann haben sie bereits ein Situationspotential entwickelt. Sie sind bei ihrer Weiterreise nach Paris nicht „nackt“.
Sie kommen als Mächtige an.
Genau. Mit einem Situationspotential.
Die Chinesen hüten sich also davor, etwas zu unternehmen, bevor die Situation reif ist?
Ansonsten liefe es darauf hinaus, eine Situation zu erzwingen. Das wäre dann zwar vielleicht eine Heldentat, etwas Spektakuläres, Sensationelles, aber sie hätte nicht sehr viel Wirksamkeit.
Noch einmal zurück zur Demokratie: Sie braucht die Wirksamkeit auf, weil sie Transparenz braucht, um akzeptiert zu werden. Aber die Wirksamkeit, das ist etwas, das man mit dem bloßen Auge nicht sehen, nicht wahrnehmen kann.
In der chinesischen Geschichte ist Deng Xioaping übrigens der große Vertreter der Kunst des Reifenlassens. Er hat damals, 1976, als Mao gestorben ist, einen vollständigen Wandel eingeläutet, ohne jemals die Absicht klar und laut verkündet zu haben, China in ein hyperkapitalistisches Land umzuwandeln. Er hat es aber ohne Bruch, ohne ein großes Ereignis, ohne dass irgendetwas nach außenhin sichtbar gewesen wäre, gemacht; ganz einfach, indem er kontinuierlich die Bedingungen verändert hat. So ist China heute nicht mehr das Land, das es vor 40 Jahren war – und bleibt dennoch zugleich kommunistisch. Ein Einzelfall in der Geschichte.
Es gibt diesen chinesischen Ausspruch, den ich sehr gerne mag, und der der Titel meines neuen Buches ist, nämlich Wandel in der Stille. Das Reale besteht allein aus Wandeln, die sich in aller Stille vollzogen haben. Und Deng Xioaping ist der ganz unspektakuläre „stille Wandler Chinas“.
Was ist mit dem Wandel, den Veränderungen, deren Notwendigkeit die Unternehmensführer oft sehr laut verkünden?
Die gibt es nicht.
Ich denke wirklich, es gibt nichts als Wandel in der Stille. Und was man da als ein revolutionäres Change-Ereignis oder Ähnliches bezeichnet, das ist nur das sonore Anklingen eines sich in der Stille vollziehenden Wandelns. Eine Nebenwirkung, die plötzlich unter all den vielen Tönen hörbar wird.
Auch den 11. September muss man übrigens in dieser Lesart verstehen, ebenso die globale Erderwärmung oder das Altern oder Kontinentalverschiebungen - all dies sind Wandel in der Stille.
Da sich alles prozesshaft wandelt, und zwar über eine bestimmte Dauer hinweg, sieht man den Wandel an und für sich nicht. Man sieht nicht, wie der Weizen reift, man sieht nur das Ergebnis. Wenn der Weizen reif ist, muss man ihn schneiden.
Altern bedeutet: Alles an uns ist gleichzeitig diesem Prozess ausgesetzt. Nicht allein die Haare, nicht allein der Blick, nicht allein die Stimme, sondern alles gleichzeitig. Man sieht nicht, wie jemand alt wird, doch wenn man dann ein Foto von vor 20 Jahren betrachtet, kommt man zu dem Schluss, alt geworden zu sein.
Noch einmal zurück den Führungskräften und ihren Problemen mit Veränderungen. Sie nannten die beiden Konzepte Modellisation und Maturation. Ist der beste Weg eine Kreuzung aus beiden?
Die beste Strategie ist immer eine Kreuzung. Ich bin ganz und gar dagegen, es so wie viele westliche Menschen zu halten: auf die eigene, westlich geprägte Vernunft zu verzichten - und ganz zum chinesischen Denken zu konvertieren.
Man muss in der Lage sein, gleichzeitig Ziele zu definieren – und von ihnen ausgehend die Menschen zu mobilisieren. Mann muss sie überzeugen, so dass sie bereit sind, sich mit etwas anzufreunden, das sie selbst ganz anders sehen. Dabei jedoch bitte nicht an den Setzlingen ziehen!
Ich glaube übrigens, dass sich gute Führungskräfte / Politiker im Abendland durchaus schon auf diese Kreuzung der Konzepte verstehen. Sie erstellen Modelle, Pläne, benennen Ziele, um zu mobilisieren, aber zugleich wissen sie, wie man die Situation reifen lässt, damit sich die Bedingungen letztlich positiv für sie auswirken. Sie beherrschen es zum Beispiel, dass Konkurrenten sich aktiv, gar hyperaktiv verausgaben.
Eine typisch europäische Frage: Situation oder Person, was ist wichtiger?
In Sun Tzus „Kunst des Krieges“ steht ein Satz, der meiner Auffassung nach eine große Bedeutung hat: Mut und Feigheit sind die Auswirkungen eines Situationspotentials. Also nicht ich als Person bin mutig oder feige, sondern die Situation bewirkt, dass Sie in dieser Situation entweder kämpfen oder dass Sie nicht kämpfen.
Was sagt folglich der Kriegsstratege in China? Bringen Sie Ihren Soldaten in eine Situation hinein, die dergestalt ist, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als mutig zu sein und bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Dazu sagt man im Chinesischen: Jemanden ganz hoch hinaufbringen und ihm dann die Leiter wegziehen. Man bringt ihn also in eine Situation, in der er nur durch Mut bestehen kann. Das führt dazu, dass es viel weniger das Subjekt ist, das die Grundlage des Konzepts bildet. Sondern: die Situation.
Oder nehmen Sie das Beispiel der chinesischen Malerei, die Darstellung von Landschaften. Da haben Sie Berge, Wasser, Bäume – und dann irgendwo ganz klein im Hintergrund auf einem Weg einen Menschen, der vorübergeht.
Schauen Sie einmal (holt einen Bildband herbei), wie diskret der Mensch nur ganz im Hintergrund, kaum wahrnehmbar abgebildet ist. Sie sehen da die Landschaft, da sind energetische Spannungen, da ist ein großes Situationspotenzial. Und die Menschen gliedern sich ein, mit einer Art Mikroenergie.
Können die Chinesen besser kreuzen bzw. adaptieren?
Tja. Seit Mao gibt es den Ausdruck: auf seinen beiden Beinen laufen, nämlich auf dem westlichen und auf dem chinesischen Bein. Und der wichtige Beitrag, den Mao geleistet hat, ist: Er hat das europäische Denken an das chinesische Denken angepasst.
Die Stärke Chinas heutzutage besteht genau darin, dass ihm beide Register zur Verfügung stehen. China kann es so wie wir halten, Pläne erstellen, Ziele festsetzen, aber es kann es eben auch ganz anders, traditionell chinesisch anstellen. So wie in der Medizin, wo es in einem Krankenhaus ein Stockwerk mit westlicher und eines mit chinesischer Medizin gibt, verfügen die Chinesen grundsätzlich über den besonderen Vorteil und die große Stärke, dass ihnen beide Register zur Verfügung stehen.
Wir haben also noch nicht genug von den Chinesen gelernt?
Wir fangen gerade erst damit an. Was kein Wunder ist. Ich glaube nämlich, es ist viel einfacher, sich das Wissen der abendländischen Kultur anzueignen als umgekehrt. Denn das Wissen des Abendlands ist in Konzepten dargestellt, modellisiert und somit explizit, während das chinesische Wissen implizit ist, nicht in Normen fixiert. Man braucht viel Geduld, man muss die Texte, die Kommentare und die Kommentare zu den Kommentaren lesen. Das chinesische Wissen ist nicht symmetrisch. Und eben diese Dissymmetrie spielt eine wichtige Rolle.
Abschließend: Was würden Sie westlichen Führungskräften raten: Wie können Sie wirksamer werden?
Ich denke, dass die westlichen Verantwortungsträger stärker auf die sich in der Stille vollziehenden Wandel Rücksicht nehmen sollten. Sie sollten sich nicht so stark auf Ereignisse versteifen, weniger davon ausgehen, dass das Ereignis die Ursache ist. Vielmehr sollten sie auf die diskrete Kontinuität Acht geben, an den Situationen arbeiten und besser lernen, diese so zu gestalten, so an ihnen zu drehen, sodass sie sich für sie begünstigend auswirken. Nicht an den Setzlingen ziehen, dies ist eine grundsätzliche Empfehlung, die ich sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft und die Unternehmensführung ausspreche.
Besten Dank für das Gespräch, Monsieur Jullien.
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