INTERVIEWfür das Journal Supervision, „Fremdheit und die Sehnsucht nach Identität“; eine Koproduktion mit Theresia Volk
Ein Gespräch mit Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Über Fremdheitsmanagement, Identitätspolitik und die Rolle des Beraters
Interview: Theresia Volk (ThV) und Heiko Schulz (HS)
HS:
Herr Nassehi, Sie haben geschrieben: „Fremdsein ist der Modus des Gesellschaftlichen – nicht nur für Fremde.“ Wenn Sie das etwas erläutern könnten…
Nassehi:
Ich meine, dass der Fremdheitsbegriff unglaublich aufgeladen ist. Es ist nicht trivial, zu sagen, was denn eigentlich fremd ist. Es gibt einen soziologischen Klassiker, Georg Simmel, der sehr schön beschrieben hat, dass das Fremdsein eine soziale Beziehung ist. Das heißt, wir haben bereits eine Beziehung zum Fremden, wir wissen bereits etwas über ihn, wenn wir ihn als fremd titulieren. Vor allem dank unserer Stereotypen und Vorurteilsstrukturen wissen wir bereits eine ganze Menge über ihn.
Und zur Bemerkung, die Sie gerade zitiert haben: Wo kommen Sie jetzt gerade her?
ThV:
Aus Augsburg.
HS:
Aus Köln.
Nassehi:
Das heißt, Sie sind an Bahnhöfen, Flughäfen, im Straßenverkehr, in der U-Bahn gewesen und haben dort viele Leute gesehen, die Sie nicht kennen. Das ist eine hoch voraussetzungsreiche Geschichte. In früheren Gesellschaften hätten es die Menschen gar nicht ausgehalten, an einem Tag so viele andere Leute zu treffen, die wirklich fremd für sie sind. Aber heute haben wir keine Angst davor, mit fremden Leuten in einen U-Bahn-Waggon zu steigen. Da fährt man – das wäre für Psychoanalytiker ein interessantes Thema – in ein tiefes schwarzes Loch und ist doch relativ zuversichtlich, wieder herauszukommen. Und wenn Sie mit dem Flugzeug gekommen sind, ist es doch so: Sie kennen den Piloten nicht. Sie vertrauen einfach darauf, dass im Cockpit kein Soziologe oder Coach oder so etwas sitzt. Das sind alles Fremde, die für uns gewissermaßen indifferent sind.
Allerdings produzieren diejenigen, die wir für fremd halten, unglaublich viele Informationen.
Es ist viel schwieriger, in der U-Bahn an einer Sprache, die wir nicht verstehen, vorbeizuhören als an der eigenen Sprache, obwohl wir die verstehen. Bei der eigenen Sprache können wir weghören, sie als Hintergrundrauschen nehmen. Bei einer fremden Sprache fragen wir uns direkt: Was ist denn das eigentlich? Uigurisch oder Japanisch?
Das ist das Interessante, dass das Fremde immer mehr Aufmerksamkeitswert produziert.
ThV:
Wie ist es mit der Fremdheit und den sozialen Beziehungen bei der Arbeit, in den Betrieben? Also, man gehört irgendwie zu einem Unternehmen, zu einer Organisation. Das beruhigt zunächst einmal. Es ist aber auch – zumal in modernen Matrixorganisationen – tägliches Fremdheitsmanagement angesagt – mit dem ITler aus Indien oder mit dem Produktionsstandort in der Türkei. Es gilt als typisch für die modernen Arbeitswelten, dass der, mit dem ich zusammenarbeite, nicht in einem Büro nebenan sitzt ...
Nassehi:
… aber selbst wenn er im Büro nebenan sitzt.
Ich meine: Alle Großorganisationen – nicht nur Unternehmen, aber die besonders – betreiben heute professionell Diversity-Management. Die Diversity in Unternehmen, die wir speziell so nennen – die besteht aus Menschen, die Namen mit vielen Üs haben …
ThV:
… oder biologische Eigenarten …
Nassehi:
… oder sexuelle Stile. Auch Hautfarbe und Alter sind inzwischen Themen für Diversity. Und es ist ja spannend, warum wir ausgerechnet das als Diversity bezeichnen und managen, aber etwas anderes nicht: nämlich dass man hier einen Betriebswirt hat und da einen Volkswirt und da einen Ingenieur und da einen Software-Entwickler.
HS:
Die sind ja auch divers und sich fremd.
ThV:
Wenn sie alle an einer Schnittstelle miteinander zu tun haben, ist echte Verständigung eher unwahrscheinlich ...
Nassehi:
Genau. Marketingmenschen und Controller sprechen nun mal unterschiedliche Sprachen. Man braucht extra Übersetzer – Führungskräfte – die Verständigung möglich machen.
Das heißt, ein Unternehmen besteht aus Diversitäten. Organisationen sind von Natur aus ein Management von Diversem.
Geredet wird über Fremdheit üblicherweise aber nur im Hinblick auf ganz bestimmte soziale Dimensionen. Ich bin kein Sozialromantiker. Ich bin nicht jemand, der sagen würde, dass die sozialen Fremdheitsdimensionen nicht durchaus einen Sprengstoff beinhalten und Basis für Konflikte sein können und manchmal schwer zu handeln sind. Das ist überhaupt gar keine Frage. Aber es ist schon interessant, warum wir uns an diesen Dingen festbeißen.
Es ist eine paradoxe Situation – z.B. bezogen auf universitäre Berufungskommissionen. Ich sitze oft in solchen Kommissionen, und die Leute finden es entweder lustig oder halten mich für einen schlechten Menschen, wenn ich sage: Diese Stelle muss mit einer Frau besetzt werden, weil das Geschlecht keine Rolle spielen darf.
ThV:
Was steckt hinter dieser Paradoxie?
Nassehi:
Zum einen ist sie unvermeidlich – und spricht natürlich nicht gegen die Förderung von Frauen. Sie kommt sozusagen von außen in die Organisationen hinein, als Erwartung der Gesellschaft, wenn man so will.
Wir leben in einer Gesellschaft, die Symmetrieerwartungen als das Allerhöchste formuliert. Von Niklas Luhmann gibt es die wundervolle Formulierung, dass wir in der Gesellschaft völlige Freizügigkeit, Freiheit, Individualität genießen; in Organisationen genießen wir manche dieser Grundrechte aber nicht. In Unternehmen haben Sie kein freies Rederecht. Sie können nicht als BMW-Mitarbeiter ein Interview geben und sagen, BMW ist Mist, ich fahre Mercedes. Das können Sie als Privatmensch behaupten, aber nicht als Mitarbeiter von BMW.
Sie haben auch keine Freizügigkeit. Wenn der Chef sagt, fahr morgen nach Frankfurt und verhandle mit Unternehmen X, dann kann man nicht sagen, Frankfurt, nee, das gefällt mir nicht, ich fahre lieber nach Berlin, ist viel schöner.
Das heißt, wir haben in Unternehmen immer schon Asymmetrien eingebaut. Ohne Hierarchien, ohne Zuständigkeiten, ohne Verantwortung jemandem gegenüber und so weiter kann man Unternehmen überhaupt nicht denken. Man hat in den 1970er Jahren versucht, Unternehmen oder Organisationen auf Augenhöhe zu setzen oder zu rotieren – jeder muss alles können. Hat alles nicht funktioniert. Es kommt dann eher zu einer Art Naturzustand, in dem sich am Ende der Stärkste und Lauteste durchsetzt und nicht die beste Lösung.
Die Gesellschaft hat aber radikale Symmetrieerwartungen. Das gilt vor allem für die soziale Dimension, was durchaus richtig ist, denn es ist ja die Grundkonsequenz des Versprechens der aufgeklärten Moderne, dass wir keinen Unterschied zwischen den Menschen machen.
Diese radikalen Symmetrieerwartungen kommen also jetzt in die Organisationen hinein, äußern sich über Ideen und Diskussionen wie Equal Pay usw. Damit müssen die Organisationen umgehen. Und dann kommt noch die Paradoxie dazu, dass sie, um etwas – zB weibliche Führungskräfte – unsichtbar zu machen, es erst einmal besonders sichtbar machen müssen.
HS:
Zu Ihrem Symmetriebegriff gehört der Gerechtigkeitsbegriff, oder?
Nassehi:
Ja, Gerechtigkeit, und die Frage: Darf man heute eigentlich noch bestimmte Gruppen in der Gesellschaft privilegieren? Das wird für immer ungerechter, unplausibler gehalten.
Das Thema ist diese totale Symmetrie, wie meine Kollegin Irmhild Saake sagen würde. Wir erleben das zum Teil bei unseren Studenten, wenn sie sagen: „Wenn Sie das bessere Argument haben, dann ist das ja eigentlich ein Herrschaftsargument … ein Herrschaftsinstrument.“
Dann sage ich: Ja, genau. Dafür sind bessere Argumente gemacht, dass sie besser als schlechte Argumente sind. Das ist aber völlig unplausibel geworden. Es ist jedenfalls ein interessanter Hinweis, dass die Symmetrieerwartungen unglaublich groß sind.
ThV:
Bei den ganzen Trump- und Fake-News geht es ja auch darum: „Was interessiert mich das bessere Argument? Nur weil das wahr ist, muss ich ja nicht Unrecht haben.“
Nassehi:
Da fängt die Diskussion über die Identitätspolitik an. Schauen Sie sich amerikanische Universitäten an. Da gibt es Studiengänge, die nur dazu dienen, bestimmte Partikulargruppen mit Reflexionstheorien zu belegen. In Deutschland wäre das Turko-Deutsch – Turkey-German Studies. So etwas gibt es in den USA an jeder Universität. Ein Freund von mir ist Professor für Black-German Studies in den USA. Es geht vor allem um Kinder von ehemaligen US-Army-Soldaten mit meistens deutschen Müttern, die eben schwarz sind und eine bestimmte Bedeutung für die Kultur haben. In den USA machen sie daraus einen Studiengang für Black-German Studies.
HS:
Ist das auch ein Reflex auf gesellschaftliche Symmetrieerwartungen?
Nassehi:
Ja.
ThV:
Man sucht sich Diversitäten heraus, bindet eine Schleife drum und sagt, das ist …
Nassehi:
… lesbische Kontinentalliteratur – das gibt es als Fach, das habe ich nicht erfunden. Das ist ja auch okay, kann man machen, und es hat ja durchaus auch einen emanzipatorischen Wert. Ich spotte nicht darüber. Als Soziologe interessieren mich aber vor allem die radikalen Symmetrieerwartungen, die darin zum Ausdruck kommen – und die treffen natürlich auch auf die Unternehmen, die gewissermaßen die letzten Großapparate sind, in denen Asymmetrien geradezu konstitutiv sind.
ThV:
Außer der Kirche.
Nassehi:
Auch dort lautet ja die große Frage: Ist es plausibel, dass es geweihte Personen gibt, die im Sinne der Transsubstantiation tatsächlich andere Menschen sind? Ist das plausibel oder nicht?
Klar ist jedenfalls: Man kann Organisationen nicht rein symmetrisch führen.
Ich halte oft Vorträge übers Führen und finde es immer wieder interessant, wie erstaunt Führungskräfte sind, wenn ich ihnen sage: Führen ist ein asymmetrisches Verhältnis, führen ist ein Machtverhältnis. Von Macht wollen sie nichts hören. Das ist etwas Böses. Dabei würde eine Gesellschaft ohne Macht zusammenbrechen. Wir brauchen diese Asymmetrie in der Gesellschaft. Das Verhältnis von Staat und Bürger ist immer asymmetrisch. Der Staat hat das Gewaltmonopol – nicht der Bürger. Denken Sie an die Diskussion über die Reichsbürger, die diese Asymmetrie aushebeln wollen. Da wird der Staat fuchsig. Daran kann man erkennen, welche Bedeutung dieses Gewaltmonopol, diese Asymmetrie hat.
Organisationen müssen lernen, die Frage der Symmetrie und Asymmetrie neu zu ordnen – ohne Asymmetrie einfach durch Symmetrie zu ersetzen. Denn das funktioniert nicht. Das ist völlig ausgeschlossen. Das weiß jeder, der das mal auch in kleinem Rahmen versucht. Ich führe meinen Lehrstuhl schon sehr symmetrisch. Aber wenn es hart auf hart kommt, entscheide ich.
ThV:
In Unternehmen wird ja viel von Kulturwandel, von Kulturveränderung gesprochen. Warum ist Kultur so attraktiv für Unternehmen? Ist das auch ein Versuch der Symmetrisierung?
Nassehi:
Kultur ist ein Hinweis auf etwas, das man nicht einfach operativ steuern kann. Aus Unternehmens- und Organisationssicht gilt: Wir können entscheiden, wo wir investieren. Wir können entscheiden, ob wir diese Produktlinie weiter verfolgen oder nicht, wir können darüber entscheiden, ob ein Studiengang bleibt oder nicht. Das kann man alles machen. Aber über kulturelle Praktiken und Routinen, die sich eingeschlichen und eingebürgert und verfestigt haben, kann man nicht so einfach entscheiden. Deshalb versucht man die durch Trainings loszuwerden, durch Aufklärung, durch Vorträge, durch was auch immer. Auch durch Symbolpolitik: „Wir sagen jetzt alle du zueinander. “
ThV:
Oder durch Lockern oder Abschaffen der Krawatte.
Nassehi:
Oder so was, ja.
HS:
Meinen Sie beide, dass sich durch Duzzwang-und Entkrawattierung kulturell nichts ändert?
Nassehi:
Ich glaube eher, das ist ein Ausdruck dessen, dass sich schon so wahnsinnig viel geändert hat.
Wenn man noch mal Niklas Luhmann zitiert, da gibt es einen wundervollen Satz: Wir haben das Gefühl, dass wir nichts ändern können, aber es ändert sich alles permanent. Das ist doch eine Grunderfahrung, die man in modernen Gesellschaften permanent macht. Wir können operativ unglaublich schwer Dinge ändern – aber nichts bleibt, wie es ist.
Nochmal konkreter zum Kulturbegriff in Unternehmen: Es geht darum, wie man eigentlich auf das Unternehmen zugreifen kann – jetzt, da alle direktiven Zugriffe eigentlich gescheitert sind. Also wird über Kultur geredet. Und über die Kultur kommen die Identitätsfragen hoch und herein in die Unternehmen. Ich finde das manchmal unglaublich lächerlich, wie in Unternehmen darüber geredet wird: „Ich identifiziere mich mit dem Unternehmen, dem Namen, unserer Botschaft, unserem Mission-Statement, unserer Verantwortung und so weiter“. Man kann das irgendwie albern finden, aber genau besehen bleibt den Unternehmen ja gar nichts anderes übrig. Die Manager müssen ihr Steuerungsdefizit dadurch kompensieren, dass sie schöne Geschichten übers Unternehmen erzählen.
ThV:
Das Steuerungsdefizit, der verloren gegangene direkte Zugriff, muss kompensiert werden über eine neue Identifikation?
Nassehi:
Kennen Sie aus der Politik doch auch, oder? Wenn Gesellschaften in die Krise geraten, wird die Erwartung an kollektive Identität größer. Wenn die soziale Ungleichheit stärker wird, wenn es zu Konflikten mit anderen kommt, wenn es Steuerungsdefizite gibt, dann sagt man gern: Wir sind doch alle eins. Ich glaube, der Erste, der in diesem Sinne im deutschen Sprachraum sein Volk als Volk angesprochen hat, war Friedrich Wilhelm III. während der Napoleonischen Kriege, wo ja hier vieles durcheinandergeraten ist. Ich rede jetzt mein Volk direkt an, wir sind eins – das ist Anfang des 19. Jh. gewesen, noch bevor die Nationalstaaten entstanden sind.
Also, der semantische Nationalismus ist ein Krisenphänomen – aber eben auch eine probate Lösung.
Und das finden Sie in Organisationen auch. Wann kommt eine Organisation dazu, Leute auf sich selbst einzuschwören? Meistens in Krisensituationen. Wenn die Dinge funktionieren, dann brauchen sie das nicht. In Krisen muss man Geschichten finden und erfinden. Auch daran kann man sehr schön sehen, dass Identität eigentlich immer etwas ist, das nicht einfach da ist, sondern eigens produziert werden muss.
ThV:
Man braucht Identitätspolitik erst dann, wenn das mit den Identitäten eigentlich vorbei ist?
Nassehi:
Das ist wieder das Paradoxe.
In früheren Gesellschaften hatten die Leute ganz einfache Identitäten. Sie waren definiert dadurch, dass sie an einem bestimmten Ort geboren wurden.
Man musste gar nicht drüber reden, die Frage wäre gar nicht gestellt worden. Heute müssen wir uns diese Geschichten erzählen. Und die Plausibilität der Geschichte ist die Geschichte selbst. Die muss natürlich schon auch zu einem selbst, zu einem Produkt, zu einem Unternehmen, zu einer Nation, wie auch immer, passen.
Ich meine, das Publikum ist doch daran gewöhnt, es lebt den ganzen Tag in Geschichten – alle lesen Romane, gucken sich Soaps an oder Serien in Stream-Diensten, sie machen abends den Fernseher an und bekommen Geschichten erzählt. Sie erzählen sich Geschichten über sich selbst. Und in der Werbung wird heute nicht mehr gesagt, Persil wäscht besonders weiß, sondern es wird eine Geschichte drumherum erzählt, in der das Produkt womöglich gar nicht mehr vorkommt. Kein Wunder also, dass Identitätspolitik bis in die Selbstbeschreibung von Unternehmen hineinkommt. Nur muss man eben wissen: Das ist Identitätspolitik.
Wir haben es ja heute sehr viel mit Konvertiten zu tun. Warum ist der Veganismus so interessant? Nicht weil man bestimmte Sachen isst, sondern weil man entschieden hat, etwas anders zu machen. Warum sind religiöse Konvertiten besonders interessant? Weil sie das als Entscheidung erzählen können. Besonders beherzt bekennende Muslime sind deutsche Frauen, die sich zum Islam bekannt haben – die haben mehr zu erzählen als die autochthonen Muslime: als Frauen und als Deutsche. Hochgradig spannend.
ThV:
Habe ich das richtig verstanden: Identitätspolitik ist die Ablösung von Loyalität…
Nassehi:
… und ihre Stabilisierung oder Neuherstellung.
Wenn Sie sich mal angucken, was Rechtspopulisten heute machen? Deren identitätspolitische Strategie ist, auf die Einheit des Eigenen besonders hinzuweisen. Aber wenn man solche Leute auffordert: Jetzt qualifizier das Eigene doch mal – können sie nichts sagen. Das ist ja der Ausgangspunkt unseres Gesprächs: Über das Fremde kann man viel einfacher etwas sagen, man kann viel leichter sagen, was die Türken so machen oder was Chinesen sind oder Japaner, weil Sie darüber konsistente Geschichten erzählen können. Die Italiener sind heißblütig und die Spanier auch. Schweden sind verschlossen und sagen nichts und so weiter.
Diese ganzen Stereotype über das Fremde funktionieren ja oft ganz gut ... aber über das Eigene etwas zu sagen, ist unglaublich schwer. Die anderen können über die Deutschen etwas sagen – pünktlich, arbeitsam und inzwischen auch ein bisschen sympathisch. Das können wir über uns selber aber eigentlich nicht sagen, ohne dass es irgendwie lächerlich wirkt, weil das eine völlig unterkomplexe Beschreibung dessen ist, was es eigentlich heißt. Das Gleiche gilt für jede Art von Identitätspolitik, wenn man so will.
ThV:
Definieren Sie für uns am Schluss doch mal die Rolle von Beratern.
Nassehi:
Ich würde Berater soziologisch als eine Art Beobachtungsanlass beschreiben. Oder als Selbstbeobachtungsanlass. Ein guter Berater muss Sätze sagen, die überraschen.
Ein guter Berater ist ein Gegenüber, das mich dazu bringt, Sätze zu sagen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Vielleicht ist das ja das, was Kommunikation so stark macht. In guten Kommunikationsprozessen komme ich auch auf Sätze, die mich überraschen können.
Deshalb ist ein Interview auch so spannend. Ich bin in Interviews viel schlauer als wenn ich schreibe. Weil die fremden Fragen Sätze provozieren, auf die ich selber nicht gekommen wäre. So etwas Ähnliches macht ja auch die Beratung.
Der gute Berater ist der, der einen Perspektivenwechsel vornehmen kann. Der die Perspektivendifferenz für etwas wirklich Relevantes hält.
Die eigentliche Kompetenz ist heute allerdings gar nicht das Beraten, sondern das Beraten-werden.
ThV:
Das das ist ja ein interessantes Symmetriespiel.
Nassehi:
Absolut.
Nur der Berater kann Sätze sagen, die niemand aus der Organisations-Struktur selber sagen würde. Historisch gab es die Figur schon mal. Das war der Hofnarr. Der Hofnarr ist der Einzige, der für die Wahrheit nicht geköpft wurde. Das gilt für so eine Beratungsgeschichte auch. Die operativ spannende Frage ist: Wer sieht den Berater? Ist es nur der Verantwortliche oder ist es eine ganze Struktur? Ist der Berater in der Lage, etwa wenn er mit Gruppen zu tun hat, deren Dynamik offenzulegen? Das ist schon auch ganz schön riskant, beraten zu werden, weil latente Strukturen sichtbar werden können. Die Schlauen würden sich dem aussetzen.
Wir sind damit wieder beim Fremdheitsthema. Für mich ist der Berater ein Fremder.
Die alte Fremdheitsforschung hat gesagt, der Prototyp des Fremden sei der Händler. Er ist überall herumgefahren und war in einer Partialrolle mit den Leuten verbunden. Also, willst du was von mir kaufen oder nicht, liegt nur daran, ob mein Preis gut ist oder nicht. An welche Götter ich glaube oder ob ich überhaupt an die Götter glaube, ob ich dies oder das oder jenes gut finde, spielt überhaupt keine Rolle. Das heißt, der Händler ist ein Fremder und hat dadurch eine privilegierte Position, weil er vor allem viele andere sieht. Er ist ein privilegierter Fremder, der aber gleichzeitig nie dazugehört. Das ist doch eine schöne Beschreibung für den Berater. Er gehört nicht dazu, er soll auch nicht dazugehören. Denn er produziert über diese Fremdheitsposition einen Mehrwert. Gleichzeitig verunsichern und Anlass für neue Selbstbeschreibung sein. Der Berater zehrt eigentlich von Fremdheit. Er darf sich auf die Sache selber nie richtig einlassen. Er darf nicht Teil der Struktur werden, die er berät, was ja die Position von internen Beratern oft so schwierig macht.
HS:
Der gute Fremde ist der Berater.
Nassehi:
Genau. Der Berater ist der gute Fremde.
Theresia Volk ist Vorstandsvorsitzende der DGSv, Heiko Schulz ist Chefredakteur des Journal Supervision.
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