DOPPELINTERVIEWfür side step, „Schlau sein“
Gerd Gigerenzer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die Koriphäe für intuitive Intelligenz, ein Analytiker von Weltruhm, also (vermeintlich) eher linkshirnig. Ein Gespräch über Heuristiken, den Wert von Unwissenheit und das Problem mit der Selbstaufmerksamkeit.
Herr Gigerenzer, was ist für Sie Intelligenz?
Intelligenz ist nicht zwangsläufig bewusst und hängt nicht nur mit Nachdenken, Überlegen, Logik zusammen. Ein Großteil unseres geistigen Lebens hat mit Logik wenig zu tun und ist unbewusst. Es gibt also zwei Arten von Intelligenz und wir brauchen beide: Nachdenken und Intuition. Die Frage ist: In welchen Situationen, bei welchen Problemen sollen wir unserer Intuition vertrauen – und eben nicht nachdenken?
In welchen denn?
Man muss darüber nachdenken, wann man besser nicht denkt. Als Elfmeterschütze in einem ausverkauften Stadion sollte man nicht über Schrittfolge, Winkel und die Brillanz des gegnerischen Torhüters nachdenken. Sondern hier gilt: weg mit den Gedanken. Lass den Körper, der weiß, was er zu tun hat, seine Arbeit tun.
Wie funktioniert Intuition?
Intuition ist gefühltes Wissen, das schnell im Bewusstsein ist, dessen zugrundeliegende Prozesse wir nicht kennen, aber das vieles von unserem Verhalten steuert. Sie basiert oft auf sehr einfachen Heuristiken. Also auf Strategien, die bewusst Informationen ignorieren, die sich auf das wichtige konzentrieren und den Rest beiseite lassen.
Heuristiken sind im Grunde Faustregeln, oder?
Ich verwende die umgangssprachliche Faustregel in der Tat synonym mit der wissenschaftlichen Heuristik.
Ein Beispiel für eine konkrete Heuristik, bitte.
Da muss ich Ihnen ganz konkret eine Frage stellen: Welche Stadt hat mehr Einwohner, Detroit oder Milwaukee?
Detroit?
Richtig. Wir stellten diese Frage einmal in einem College-Kurs amerikanischen Studenten. Rund 40% entschieden sich für Milwaukee, die anderen für Detroit. Anschließend fragten wir eine Gruppe deutscher Studenten. Praktisch alle gaben die richtige Antwort. Sind die Deutschen deshalb schlauer oder geografisch cleverer? Nein, sie wussten einfach nur sehr wenig über Detroit und viele hatten von Milwaukee noch nicht einmal etwas gehört. Sie haben sich auf ihre Intuition verlassen und sind einer einfache Faustregel gefolgt: Wenn du den Namen der einen Stadt, nicht aber den der anderen kennst, dann schließe daraus, dass die wiedererkannte mehr Einwohner hat. Die amerikanischen Studenten konnten sich nicht an diese Faustregel halten, weil sie beide Städte kannten. Sie wussten zuviel.
Unwissenheit kann von großem Wert sein.
Genau.
Wieviel Intuition können Sie sich beim Forschen, einer eigentlich doch sehr analytischen Arbeit, erlauben?
Spitzenforschung ist ohne Intuition nicht möglich. Ohne Risiken und Wagnisse einzugehen und Sprünge zu machen, geht es in der Forschung nicht. Wenn wir „neue Forschung“ machen wollen, dann gibt es keinen Algorithmus dafür rauszufinden, was das ist. Ich muss meiner Intuition trauen. Aber es gibt dann natürlich auch analytische Methoden, mit denen man die Hypothesen testet.
Heißt das: Logik ist überschätzt?
Kann man durchaus so sagen. Nachdenken und Intuition sollten nebeneinander und gleichwertig behandelt werden.
Mehr Information und mehr Berechnungen führen also nicht immer zu besseren Lösungen?
Ein Beispiel aus dem Golfsport: In einer Studie wurden einmal 2 Gruppen von Golfspielern, Anfänger und Golf-Experten, gebeten, einen Schlag auszuführen. Einmal hatten sie dafür nur 3 Sekunden Zeit; das andere Mal gab es kein Zeitlimit. Das Ergebnis: Wenn der Anfänger ganz wenig Zeit hat, wird er schlechter. D.h.: Ein Anfänger braucht Zeit zum Nachdenken. Wenn man dem Experten nur 3 Sekunden für einen Schlag gibt, wird er besser. Er profitiert davon, dass es einen gewissen Zeitdruck gibt. Denn die Intelligenz des Experten steckt im Körper. Alles ist günstig, was seine Selbstaufmerksamkeit verringert. Keine Zeit zu haben, zählt dazu.
In einem weiteren Experiment instruierte man die Golfanfänger und –Experten anders: Sie sollten genau auf Ihre Bewegungsabläufe beim Schlag achten. Unter diese Prämisse werden Anfänger besser. Der Anfänger braucht das. Der Experte dagegen wird schlechter, wenn er zuviel Zeit zum Nachdenken hat.
Also: Weniger Zeit kann – vor allem für Experten – mehr sein. Genauso wie weniger Selbstaufmerksamkeit auf das, was man tut, zu besseren Ergebnissen führen kann.
Das klingt, als könnte man das auch strategisch nutzen.
Ja, etwa beim Tennis. Angenommen, Ihr Partner spielt Sie heute mit seiner phänomenalen Rückhand total an die Wand. Wenn Sie die Seiten wechseln und er an Ihnen vorbei geht, dann probieren Sie einmal etwas, sagen Sie: Du hast eine solche Rückhand heute, wie machst du das nur?
Dann haben Sie eine gute Chance, dass er beginnt, darüber nachzudenken, warum er heute so gut spielt. Und damit schlechter wird.
Machen intuitive Entscheidungen glücklicher als logische?
Die Maximierer, also die, die lange Entscheidungswege gehen, sind nachgewiesenermaßen unzufriedener, neigen sogar zu Depressionen.
Nehmen Sie mal an, Sie wollen eine Hose kaufen. Sie gehen ins erste Kaufhaus und checken dort die Hosenlage, dann gehen Sie weiter ins nächste Kaufhaus, dann in eine Boutique, noch eine Boutique etc. Am Ende des Tages, kurz vor Ladenschluss, kaufen sie, ganz logisch, eine Hose. Sie sind aber alles andere als sicher, ob das die beste Hose für Sie ist. Wenn Sie nach dem intuitiven Prinzip vorgehen, legen Sie ein paar wenige Entscheidungskriterien fest, z.B.: Die Hose muss gut genug, schwarz und darf nicht zu teuer sein – und natürlich muss sie passen. Sie kaufen eine solche Hose und gehen dann ganz entspannt einen Kaffee trinken.
Besten Dank, Herr Gigerenzer.
Die Zentrale Intelligenz Agentur ist nach eigener Aussage „ein kapitalistisch-sozialistisches Joint Venture mit dem Anspruch, neue Formen der Kollaboration zu etablieren“. Ein Gespräch mit ihrem Geschäftsführer Holm Friebe, der Volkswirt, Journalist, Dozent, Autor und eher rechtshirnig ist. Über selektive Ignoranz, den Wert von „tinkering“ und das Fiese an Bauernschläue.
Herr Friebe, was ist Intelligenz?
Ich würde sagen: Die Fähigkeit, keinen Unsinn zu erzählen. Humor ist für mich immer ein Marker für Intelligenz.
Wie trainieren Sie Ihre Intelligenz?
Zeitung lesen. Bücher lesen. Mit intelligenten Leuten reden.
Erzählen Sie bitte mal, wie Sie arbeiten. Was tun Sie, um Dummheit zu vermeiden?
Ich fasse wenige physische Dinge an außer der Laptoptastatur. Meine Tätigkeit besteht aus Ausdenken, Konzipieren, Texten. Die gesamte Arbeit und Zusammenarbeit findet in der Cloud statt, das heißt im Wesentlichen: in Google-Docs und Skype-Gruppenchats. Als Organisation sind wir zwar anti-hierarchisch und grundsätzlich offen, haben aber eine “gute Tür”, wie man bei Diskotheken sagt. Intellektualität, Humor und ein guter Umgang mit Worten sind Zugangsvoraussetzungen. “Wenn die Worte nicht stimmen, stimmen die Werke nicht”, sagt Konfuzius. Deshalb bitten wir Leute, die sich bei uns bewerben, einen Probeartikel für unser Weblog Riesenmaschine.de zu schreiben. Wenn sie den Ton und Spirit treffen, sind die Chancen gut, dass sie zu uns passen.
Ihre ZIA gilt als Sonderling unter den Kreativagenturen. Was macht sie so besonders?
1. Wir sind ein virtuelles Unternehmen: keine gemeinsamen Räume, kein Betriebsvermögen, keine Angestellten.
2. Wir mischen akademische mit visueller Intelligenz: Kulturwissenschaftler und Ökonomen arbeiten mit Designern zusammen.
3. Wir leisten uns fixe Ideen: Nicht nur Kundengeschäft, sondern selbstprogrammierte Projekte, an denen man kompromisslos Neuland erforschen und innovative Ideen roadtesten kann.
4. Wir kultivieren einen sehr eigenen intellektuellen Hausstil – und muten unseren Auftraggebern einiges zu. Indem wir unsere Kunden für schlau verkaufen, entstehen aber auch sehr eigenwillige Resultate.
In welchen Bereichen ist in Ihrer Agentur Dummheit gestattet? Verrichten diese dumme Arbeit auch weniger intelligente Mitarbeiter?
Nein. Wir haben keine Praktikanten oder “Somebodies” (as in “Somebody has got to do it.”), die bei uns die stumpfsinnigen Tätigkeiten absolvieren würden. Deshalb gibt es bei uns auch keine stumpfsinnigen Tätigkeiten und allenfalls selektive Ignoranz. Schlimmer als eingestandene Dummheit oder Ahnungslosigkeit finde ich aber Bauernschläue. Diese Angewohnheit, sich mit erstbesten Lösungen zufrieden zu geben, Bullshit zu verbrämen und darauf zu spekulieren, damit davon zu kommen, ist ein schleichendes Gift, deshalb regelrecht gefährlich, gleichwohl weit verbreitet.
Würden Sie sagen, es gibt so etwas wie eine „eigene organisationale Intelligenz“ der ZIA?
Es gibt ein Hinterland, ein Umfeld, einen Resonanzraum – früher hätte man Zusammenhänge gesagt, heute heißt das Netzwerk – von ca. 50 intelligenten Menschen, die unterschiedlichen Professionen nachgehen und an ganz unterschiedlichen Orten der Welt sitzen, aber über einen permanent mitlaufenden Chat lose verbunden sind und das Zeitgeschehen beiläufig kommentieren. Diese Ressource lässt sich anzapfen und macht vielleicht den “Eigensinn” der Organisation aus. Um nicht “Schwarmintelligenz” zu sagen.
Sie glauben also an die „Intelligenz der Vielen“?
Ja. Das schöpferische Genie ist ein Phantasma der bürgerlichen Gesellschaft. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Erfolg (oder: Gelingen)?
Kommerzieller Erfolg kann auch das Ergebnis von hirnlosem Fleiß oder Bauernschläue sein, wenn man für Kunden arbeitet, die genau das goutieren. Das Glück ist mit den Dummen. Was das Gelingen anbetrifft, so gilt der ewig ragende Nietzsche-Satz: "Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese."
Man spricht von den Spezial-Intelligenzen, die man fürs Überleben/Erfolghaben/Zurechtkommen heute und morgen braucht? Welche halten Sie für die wichtigsten?
“Hidden Intellectualism” oder auch “Street Smartness” sind nicht an die akademische Ausbildung gebunden, sondern weit verbreitete Formen von angewandter, alltäglicher Intelligenz und Findigkeit. “Design Thinking” oder auch “Tinkering” (Herumbasteln) meint praktisch angewandte Formen von Intelligenz, die sich im spielerischen aber hartnäckigen und unorthodoxen Lösen von Problemen und vertrackten Denksportaufgaben erweist. Zusammen sind das die Resilienzfaktoren und Strategien zum individuellen Überleben und Lösen der gesellschaftlichen “wicked problems”.
Besten Dank, Herr Friebe.
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