Essayfür fgi news 9, „Lernen"
Der Mensch lernt vor allem über „meetings and movements“. Folgen wir dieser Theorie anhand einer interessanten Person: Rem Koolhaas, einer der einflussreichsten Architekten der Gegenwart. Wie ist er geworden, was er ist? Wen hat er wann getroffen? Von wo hat er sich wohin bewegt?
Die Reisen des jungen Rem
Koolhaas kommt – nicht gerade mit einem silbernen Löffel in der Hand – 1944 in Rotterdam zur Welt. Die Stadt ist durch den 2. Weltkrieg nahezu vollkommen zerstört. Nachdem Koolhaas´ Vater lange Zeit die Unabhängigkeitsbewegung Indonesiens als Journalist unterstützt hat, zieht die Familie 1952 für vier Jahre in den asiatischen Inselstaat. Der junge Koolhaas lebt hier unter teils widrigen, fast ärmlichen Bedingungen. „In Indonesien haben wir im Pferdestall eines sehr großen Hauses gewohnt“.
Neben der Armut lernt er hier aber auch eine Form extremer Lebensfreiheit kennen – eine Freiheit, die ihm die Niederlande bei seiner Rückkehr als überorganisiert, streng und verstockt erscheinen lässt. (Noch heute beklagt der hochgewachsene Koolhaas übrigens diese „europäische Klaustrophobie“.)
Koolhaas fühlt sich in der Heimat eingekreist, umstellt, geradezu erdrückt. Ein Ventil findet er in der Literatur, genauer: in den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts, denen er eine starke, visionäre Energie zuschreibt. „Zwischen 12 und 17 habe ich mich mit nichts anderem als mit Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew beschäftigt“ erklärt der Architekt bisweilen in Interviews.
Impulse aus der „Nulbeweging“
Trotz seines Faibles für das Visionäre, Revolutionäre setzt Koolhaas beruflich zunächst eher aufs Faktische und tritt in die Fußstapfen seines Vaters. Mit 18 beginnt er, für die „Haagse Post“ zu schreiben, ein rechts-liberales Wochenmagazin, das die holländische Avantgarde magnetisierte. Viele der Autoren rekrutieren sich aus der sogenannten „Nulbeweging“, die sich ganz dem Alltagsleben und der totalen Sachlichkeit widmet. „Kein Moralisieren, kein Interpretieren der Wirklichkeit, sondern ihr Verstärken. Ausgangspunkt: die kompromisslose Akzeptanz der Wirklichkeit. Arbeitsweise: Isolieren, Aneignen. Ergebnis: Authentizität“ schreibt der leitende Kulturredakteur Armando im Manifest „Een internationale primeur (Eine sensationelle Erstmeldung)“ der „Bewegung Null“.
Entsprechend verhalten sich die Journalisten der „Haagse Post“. Sie sind aufs äußerste bemüht, ihre Meinung aus den Berichten, Interviews und Artikeln herauszuhalten und stattdessen neutral und präzise das Geschehene wiederzugeben. Die Liebe zur Objektivität geht dabei soweit, dass sie Interviews so wörtlich wie möglich transkribieren und das Gesagte so original wie möglich belassen. Letztlich bedeutet Nul eine Arbeit „ohne Stil“ – eine Idee, die Koolhaas später in den architektonischen Kontext überführen wird. So stellt sein späteres, auf extrem sachliche Analysen spezialisierter Thinktank A. M. O. ganze Wälzer zur Lage der Arabischen Emirate zusammen, bevor der Architekt auch nur ein Sandkorn dort verrückt.
In den 1960ern weist jedoch zunächst nichts daraufhin, dass sich Koolhaas in besonderer Art und Weise für Architektur interessiert. Er arbeitet daran, die Klatschspalten der Seite „Menschen, Tiere und Dinge“ zu füllen. Schreibt Koolhaas einmal längere Artikel, dann drehen sie sich um Literatur, Film und Motorsport. Doch Architektur? Gerade einmal drei Texte beschäftigen sich mit dem Thema. Darunter ist das Interview mit Constant Nieuwenhuys das Bemerkenswerteste. Nieuwenhuys galt als einer der einflussreichsten Stimmen in den Niederlanden der 60er Jahre. Sein berühmtestes Projekt New Babylon beschreibt en detail das Modell einer Stadt der Zukunft. Der urbane Raum besteht vornehmlich aus dynamischen Elementen wie bewegliche Böden, Trennwände, Rampen, Leitern, Brücken und Treppen. Licht, Akustik, Farbe, Belüftung, Textur, Temperatur und Feuchtigkeit sind dabei beliebig veränderbar.
Was Nieuwenhuys in seiner Vision mit ungebrochenem Optimismus verkündet, soll bei Koolhaas viel später in einer Alptraumfassung erscheinen: Junk Space, eine kritische, mit viel Beachtung aufgenommene Abrechnung mit den multifunktionalen Architekturen der durch Kommerz bestimmten Shopping Malls. Junk Space – so Koolhaas – besteht „nur noch aus Subsystemen, ohne übergeordnete Struktur, aus verwaisten Partikeln, die nach einem Rahmen oder Muster suchen. Junkspace ist überreif und zugleich unterernährend, eine gigantische Schmusedecke, die die ganze Erde mit einem Würgegriff der Fürsorge erstickt.“
Das negative Vorzeichen, das vor der Analyse dieser schnellen, billigen Architektur steht, streicht Koolhaas übrigens ersatzlos, als er die mit einem hemmungslosen Bevölkerungszustrom konfrontierte Stadt Lagos bereist. Junkspace kann fruchtbar und produktiv sein, verkündet der Architekt nach seiner Rückkehr den Paradigmenwechsel. Letztlich ist auch das typisch Koolhaas: die Fähigkeit, sich jederzeit selbst revidieren zu können.
Von 1, 2, 3 enz. zu O. M. A.
Viele der Redakteure und Journalisten der Haagse Post arbeiten an einer Zweitkarriere in Kunst, Literatur oder Film. So auch Koolhaas: Er engagiert sich in der Gruppe 1, 2, 3 enz. (1, 2, 3 etc.) in Sachen Kino. Die bedeutendsten Mitglieder sind Frans Bromet, ein Kameramann, der landesweit mit innovativen TV-Dokumentationen zu Ruhm gelangen soll, Kees (heute Samuel) Meyering, der viel später mit der Erfindung einer faltbaren Werkzeugkiste Rolykit zu Reichtum gelangen wird, und Jan de Bont – heute bekannt als Regisseur von Hollywood-Blockbustern wie „Speed“ und „Twister“.
Das Programm von 1, 2, 3 enz. besteht zu einem nicht unwesentlichen Teil darin, alles durch den Kakao zu ziehen, was in den 60ern Jahren en vogue ist. Das gilt in erster Linie für Dinge, die sich den Anstrich des Persönlichen, Künstlerischen, Idealistischen oder Intellektuellen geben. So nimmt man sich mit ganz besonderer Leidenschaft das europäische Arthouse- bzw. Autorenkino zur Brust. Der Aspekt, dass ein Film bloß einen einzigen Autor haben soll, erscheint den Gruppenmitgliedern als sentimentaler Anachronismus aus dem 19. Jahrhundert, um nicht zu sagen: als lächerlich.
In drei Manifesten, die parallel zueinander im niederländischen Filmmagazin „Skoop“ erscheinen, breiten Kees Meyering, Rene Daalder und Rem Koolhaas darum ihre These vom Film als Teamwork aus. Die verschiedenen Funktionen wie Schauspieler, Regisseur, Kameramann sehen sie als Spezialisierung innerhalb eines Prozesses; eine Idee, die die Gruppe schließlich zu dem Punkt führt, wo Crewmitglieder von einer Funktion in eine andere wechseln und es u. a. erlaubt ist, wie in einer Jazz-Band spontan mit Arbeit und Improvisation zu beginnen. In der Konsequenz rotieren alle Beteiligten von Kameramann zu Schauspieler zu Regisseur, wie es dann auch in dem ersten Film der Gruppe, 1, 2, 3 „Rhapsodie“ geschieht.
Verblüffend sind die Parallelen, die sich zu den Arbeitsmethoden des O. M. A. (Office for Metropolitan Architecture) ziehen lassen. Das von Koolhaas 1975 gegründete Architekturbüro entwickelt seine außergewöhnliche Architektur, indem es bereits den Entstehungsprozess sehr unkonventionell gestaltet. So wandeln sich die Spielregeln, nach denen man dort erfindet, denkt und reflektiert von Projekt zu Projekt. Die einzige Konstante: Man entwickelt die Architektur in Teamarbeit.
In diesem Prozess gestaltet sich selbst die Rolle von Koolhaas sehr unterschiedlich: So präsentiert er manchmal zu Arbeitsbeginn eine abstrakte Idee oder macht einige Skizzen, die den groben Rahmen abstecken; bei anderen Aufgaben suchen die Mitarbeiter über Wochen nach einer Lösung – und Koolhaas hält sich vollkommen zurück. Generell ist die Distanz zwischen Koolhaas zum Team immens – bedingt durch die zahlreichen Aufgaben, die der Niederländer weltweit wahrnimmt. Doch selbst die lange Leine ist wohl Teil der Entwurfsstrategie. Denn aufgrund des distanzbedingten Perspektivwechsels – so das Kalkül – lassen sich Ideen leichter stimulieren, neue Möglichkeiten einfacher finden und erstarrte Prozesse schneller aufbrechen.
Großes Aha
Zurück zu Koolhaas´ Lehrjahren: Neue Inspiration schöpft der junge Journalist in einem Seminar zu Architektur und Film an der TU Delft. Nach einem Gespräch mit dem Tutor Gerrit Oorthuys, der die Gruppe 1, 2, 3 enz. eingeladen hat, beschließt er kurzerhand, Architektur an der AA (Architectural Association School of Architecture) in London zu studieren.
An der Schule angenommen, bahnt sich Koolhaas seinen Weg durch tausende Jahre Architekturgeschichte, ererbte Regelwerke und Theoriebildung. Bereits zu jener Zeit ist klar, dass es nichts Verbindliches mehr gibt, das ein Professor an die Tafel schreiben könnte: Die Postmoderne hat gerade das vermeintlich Allgemeingültige in der Art eines nassen Schwamms weggewischt und alles, was einmal als Maßstab galt, aufgesogen. Und tatsächlich: Niemand an der AA wünscht sich den doktrinären Ton der Avantgarde zurück, etwa eine So-soll-der-Mensch-leben-Haltung à la Bauhaus. Koolhaas ahnt, dass sich aus dem Sichabarbeiten an den Übervaterfiguren kreatives Kapital schlagen lässt. Er beschäftigt sich deshalb mit den Protagonisten der Moderne genauso wie mit den Metabolisten und Strukturalisten; unternimmt dabei wichtige Schritte, um seinen Sinn für Formen, Strukturabsichten und Ordnungswelten zu schulen. So merkt man seinen Entwürfen bis heute an, wie sie die Pendeldynamik von ästhetischer Revolte, Gegenrevolte und Gegengegenrevolte nachzeichnen, reflektieren und wieder außer Kraft setzen.
Nach seinem Abschluss gewinnt Koolhaas übrigens einen Haufen Wettbewerbe. Ironische Pointe: Seine Bauten werden nie Wirklichkeit. Sie gelten als zu radikal, zu provozierend, zu schwierig. Einen Namen macht sich der Architekt deswegen zunächst als Essayist: Seine Betrachtungen über die nordamerikanische Metropole in „Delirious New York“ erlangen Weltruhm.
Jeder Entwurf ein Wurf
Lange schien der mittlerweile 64jährige Niederländer dazu verdammt, Architektur nur zu theoretisieren, anstatt sie auch selbst zu bauen. Erst in den 1980er Jahren realisiert er erste Entwürfe. In den letzten Jahren kommt es schließlich sogar zu so etwas wie einem eklatanten Umschwung. O.M.A. darf nun endlich auch wirklich prestigeträchtige Bauten realisieren: zum Beispiel die niederländische Botschaft in Berlin (2000-2002), die Bibliothek in Seattle (2004) oder das Konzerthaus in Porto (2005).
Eine von Koolhaas’ frühesten Beschreibungen der Stadt als „eine Fläche Asphalt mit einigen Punkten der Intensität“ kann gleichermaßen als Beschreibung seiner Bau-Werke dienen. Sie ähneln Verkehrsknotenpunkten. Koolhaas geht es nämlich immer auch um das ungehinderte Strömen menschlicher Energien. Ein Anspruch, der zunächst etwas nebulös, beinahe esoterisch anmutet. Dass diese Haltung durchaus ernst zu nehmen ist, beweist er exemplarisch mit der Zentralbibliothek von Seattle, die der Architekt als öffentliches Wohnzimmer konzipiert – für Ottonormalbürger ebenso wie für Obdachlose. Auch anderswo versuchen die O. M. A. Projekte Nischengesellschaften zu sprengen, zumindest aber kräftig durcheinanderzuwirbeln. Koolhaas´ Architektur will Menschen- und Energieströme lenken.
So mag man seine Bauten auch als dramaturgisch perfekte Inszenierungen des Raums loben. Die größere Leistung des unglaublich vielseitigen und beweglichen Architekten Koolhaas ist aber sicher jene: Orte zu schaffen, die in einer vielfacher Beziehung zur Stadt, zum sozialen Kontext und zu den Menschen stehen; Orte also, die die Fähigkeit besitzen, nicht nur Dialoge, sondern Polyloge zu entfalten.
Rem Koolhaas: die wichtigsten Meetings and Movements
Kann man Koolhaas’ wesentliche movements und meetings nun kurz zusammenfassen? Man kann es versuchen: Rem Koolhaas hat sich von Indonesien nach Rotterdam nach Lagos nach Delft nach London nach Amsterdan und (später u.a.) nach Den Haag, Bordeaux, Las Vegas, Berlin, Seattle, Porto und Peking bewegt. Dabei hat er u.a. seine Eltern, Dostojewski und Tolstoi, Armando, Constant Nieuwenhuys, Frans Bromet, Jan de Bont und Madelon Vriesendorp getroffen. Er hat im Laufe seines Lebens u.a. von Revolutionären, Redakteuren, Filmemachern, Architekten, Professoren und Künstlern gelernt. Rem Koolhaas ist so nicht nur einer der größten Architekten, sondern auch einer der größten Kontextwechsler unserer Zeit geworden. Aber das war ja von Anfang an abzusehen, oder?
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