Introzum Buch „Unternehmen Wahnsinn“
(Twin Peaks, Folge 8)
Die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung verbringt einen beträchtlichen Anteil ihrer Lebenszeit in einer Firma, einer Einrichtung, einem Betrieb. Also in einer Organsiation. Die Menschen leisten dort durch Arbeit einen Beitrag und verdienen ihren Lebensunterhalt. Wo es besonders gut läuft, beziehen sie aus ihrem Tätigsein auch Lebensenergie, Wissen, Gewinn, erfahren Sinn, Anerkennung, Zugehörigkeit und manchmal sogar Stolz. Nun muss man nicht extrem unternehmenskulturkritisch sein, um festzustellen: Es läuft vielerorts leider nicht besonders gut. Die meisten arbeitenden Menschen haben sich in einer Parallelwelt zwischen professioneller Unterforderung und struktureller Überforderung zwar eingerichtet. Aber sie spüren den Wahnsinn dieser Welt.
Dieses Buch wirft einen scharfen Blick auf den „ganz normalen Wahnsinn“ in Unternehmen, Organisationen und Projekten; und auf die Menschen, die dort gut, gerne und engagiert arbeiten wollen, aber nicht immer dazu kommen. Dabei hört sich die Floskel vom „ganz normalen Wahnsinn“ erst einmal ganz nett an. Bei genauerem Hinsehen, sozusagen humanitär betrachtet, ist es aber gar nicht so nett, dass Tristesse und Druck bei der Arbeit offensichtlich und unbestritten extrem zunehmen. Viel ist schon von der Identitätskrise derer die Rede, die von heute auf morgen ihren Job verlieren. Aber auch Mitarbeiter und Führungskräfte in „guten Positionen“, ob in kleinen Unternehmen oder interantionalen Konzernen, fühlen sich oft als Teile von Mechanismen, die sie innerlich permanent den Kopf schütteln lassen. Sie alle strengen sich brutal an, investieren immer mehr an Zeit, Gedanken, Mühe, Nerven in ihre Arbeit – oft schon ab 4 Uhr morgens im eigenen Bett –und erkennen doch immer weniger die Früchte ihrer Anstrengung. Vom Ernten ganz zu schweigen. Die Organisations-Menschen erleben sich als wirkungslos im Gestrüpp des täglichen Betriebes. Die Zumutungen sind hart. Oft gilt es, die Ansprüche zu senken, sich fit, flexibel, mobil zu halten; Versetzungen, Ressourcenkürzungen oder Entlassungen dürfen nicht persönlich genommen werden, sind auch nicht persönlich verschuldet, müssen aber nichtsdestotrotz persönlich getragen werden. Gedankenarme Routinen ohne erkennbaren Sinnzusammenhang, Konkurrenz zwischen Teamkollegen, flächendeckende Kontrolle in offenen Großraumbürolandschaften, Telefonate, die umfassend mitgehört, gezählt und auswertet werden. Verkäufer, die Kunden Produkte andrehen sollen, die diese nicht brauchen. Manche werden mit Aufgaben überschüttet, andere haben nichts zu tun. Die einen brechen zusammen, die andern sind zermürbt vom Überflüssigsein. Besonders ungut bzw. beängstigend: Es sind nicht einzelne Fehlfunktionen oder wildgewordene Einzelpersonen (egomanische Chefs), die das Fürchten lehren, sondern das Gefühl, in einem verwilderten System gefangen zu sein, in denen Gute wie Böse, Tüchtige wie Faule oft ununterscheidbar sind und versuchen vorwärtszukommen – oder auch nur durchzukommen. Die Entscheider sind selber Betroffene – und die Betroffenen entscheiden. Alle wähnen sich ihrem Tun „alternativlos“.
Das macht die Situation einigermaßen aussichtslos. Oder: ziemlich wahnsinnig. Was aber steckt eigentlich hinter diesem Begriff?
Er bezeichnet außergewöhnliche, extreme Zustände, in positiver wie negativer Hinsicht, und stammt ursprünglich aus dem Lateinischen und bezog sich aufs Landwirtschaftliche „von der geraden Furche abweichen, aus der Spur geraten“. Althochdeutsch bedeutete „wan“ schlicht leer, ohne Inhalt. Das verband sich sprachgeschichtlich mit dem anderen ahd. Begriff „wân“, der „Glaube, Hoffnung, Erwartung“ ausdrückte. Aus der Kombination entstand also die falsche, die eingebildete Hoffnung.
Der Wahnsinn gilt jedenfalls als „Geisteskrankheit“. Das geht auf die Charakterisierung durch Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) zurück: Wahnsinn sei eine Form der Unvernunft, der methodischen Verrückung. Er beruhe auf „selbstgemachten Vorstellungen einer falsch dichtenden Einbildungskraft“. Alle Formen des Wahnsinns, so Kant, zeichnen sich durch den Verlust des Gemeinsinns (sensus communis) aus, der durch einen logischen Eigensinn (sensus privatus) ersetzt wird (und der ist immer alternativ-los).
In der modernen Psychiatrie gelten Wahnvorstellungen als Störung der Urteilskraft. An diesen i. d. R. zwanghaften inhaltlichen Denkstörungen halten Betreffende auch dann noch fest, wenn es sie in ihrer Lebensführung extrem behindert.
In der Literatur kennzeichnet der Wahnsinn einen Zustand des geistigen Zusammenbruchs, der eintritt, weil unerträgliche psychische Belastungen nicht mehr anders bewältigt werden können. Das bedeutet; Wahnsinn kann also sowohl Ursache wie auch Folge von untragbaren – sprich vom Einzelnen nicht zu bewältigenden – Umständen sein.
Noch näher an die heutige Arbeitsrealität rückt Alexander Rüstow den Wahnsinnsbegriff. Der liberale Wirtschaftswissenschaftler, dem wir die Wortschöpfung „neoliberal“ verdanken, hat die Wirtschaft 1949 als untersten aller Lebensbereiche angesehen, deren Aufgabe darin besteht, „allem anderen sich unterzuordnen und zu dienen“. Dass die Wirtschaft oder der Markt an eine wesentlich höhere Stelle in der Werteskala rücke, komme nur „abnormaler- und krankhafterweise“ vor! Er hielt es für einen fatalen Aberglauben, die Wirtschaft höher zu bewerten als die Gesellschaft, der sie zu dienen habe. Rüstow würde die heutige Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Ökonomie und den Exzess der Arbeits- und Leistungsansprüche sicher als krankhaft, als geisteskrank bezeichnen. Was kann man dagegen tun?
Es empfiehlt sich zunächst ein radikaler Perspektivenwechsel, ein Blick über die realen Organisationen hinaus, in die Fiktion einer kultisch verehrten TV-Serie hinein. Bei der Beschäftigung mit den Situationen moderner Arbeitsrealitäten kann es einem nämlich ergehen wie Special Agent Dale Cooper aus David Lynchs verschrobener Produktion „Twin Peaks“. "Die Eulen sind nicht, was sie scheinen“, diese Worte werden Cooper in einer Vision durch einen Riesen übermittelt und dienen fortan als eine Art Motto und Mantra für seine Ermittlungen. Er stößt auf immer neue Geheimnisse, lässt sich aber dadurch nicht entmutigen, sondern steigert vielmehr die Komplexität seiner Beobachtung. Er verabschiedet sich komplett von der Monokausalität und findet immer mehr Ansatzpunkte für eigenes Denken und Handeln in den unterschiedlichsten Umwelten seines Tätigkeitsbereichs.
Gemäß der Cooperschen Haltung präsentiert dieses Buch leider keine Schuldigen, keine Sündenböcke, keine einfachen Rezepte, keine ultimative Auflösung der menschlich-organisationalen Misere. Dafür zeigt es Öffnungen und neue Kontexte, die dem organisationalen Wahnsinn den Sinn – das Zusammenhängende – abringen.
Es ist hier bewusst von „Symptomen, Diagnosen und Therapien“ die Rede und eben nicht von Phänomenen, Analysen und Strategien; weil sich letzteres Begriffstrio so gar nicht von der Alltagsrealität dessen, was untersucht werden soll, unterscheidet. Und vielleicht den Wahn noch verstärkt, den es zu überwinden gilt. Davon ausgehend, dass sich hinter der Floskel vom „ganz normalen Wahnsinn“ eine reale und moderne Art der Geistes- oder Organisationskrankheit verbergen könnte, muss einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Besserung der sein, die Chancen auf Krankheitseinsicht zu erhöhen. Die Manager, die sich im akuten Burnout in die Obhut teurer Privatkliniken begeben, lernen auch eher widerwillig, dass sie nicht die Kunden, Dienstleistungsempfänger oder Auftraggeber sind, sondern „Patienten“.
Die Dreiteilung des Buchs funktioniert nun so: Teil 1 mit den Symptomen ist verhältnismäßig oberflächlich, er führt im wahren Sinne eher pauschal, von oben herab in den Wahnsinn ein. Teil 2 mit den Diagnosen ist deutlich gründlicher, analytisch präzise. Und Teil 3 mit den Therapien präsentiert ungewöhnliche Therapeutentypen als exzellente Ermutiger und weise Weggefährten – er will ganz konkret behilflich, mindestes aber tröstlich sein.
Die Dreiteilung ist ernst zu nehmen, aber nicht zu ernst. Die drei Teile bauen nicht ohne Brüche aufeinander auf, sie passen nicht 1:1 zueinander, sondern wollen jeweils Wahrnehmungsstörungen und mentale Ambivalenzen aufzeigen, Perspektiven erweitern, fundamental und fruchtbar irritieren.
Das Ganze ist als eine Anregung zum nicht-trivialen Weiterdenken zu verstehen.
In diesem Sinne: Gute Besserung.
Webseitenbetreiber müssen, um Ihre Webseiten DSGVO konform zu publizieren, ihre Besucher auf die Verwendung von Cookies hinweisen und darüber informieren, dass bei weiterem Besuch der Webseite von der Einwilligung des Nutzers in die Verwendung von Cookies ausgegangen wird.
Der eingeblendete Hinweis Banner dient dieser Informationspflicht.
Sie können das Setzen von Cookies in Ihren Browser Einstellungen allgemein oder für bestimmte Webseiten verhindern. Eine Anleitung zum Blockieren von Cookies finden Sie hier.