Essayfür fgi news 9, „Individuum“
Im Allgemeinen gilt als Individuum ein Etwas, das ein Bewusstsein sowie hochpersönliche Eigenschaften und Interessen hat. Welche Rolle spielt dieses Individuum für die Organisation? Für das Top Management und seine Macken und Schrullen gilt: Sie scheinen durchaus nicht nur für Boulevardmedien interessant zu sein – dass der eine Topleader nebenbei eine Schafzucht betreibt, der andere leidenschaftlich gern Autorennen fährt, ein dritter E-Gitarren sammelt, erhöht immer auch (zumindest kurzfristig) das Interesse für die gesamte Organisation, der er vorsteht. Aber was ist mit den Eigenheiten der (nicht im Rampenlicht stehenden) Führungskräfte oder den speziellen Qualitäten der „einfachen“ Mitarbeiter? Interessiert sich dafür jemand? Oder ist vom Einzelnen unterhalb des Top Management-Levels vor allem hochgradige Anpassungsleistung gefragt? Wie ist es um die „Förderung von Individualität“ in Organisationen wirklich bestellt? Schauen wir zunächst auf die jüngere Geschichte des Individuums in Organisationen, fällt ein mehrfacher Fokus- bzw. Mentalitätswechsel auf. Die Entwicklung geht vom Individuum als Roboter über den „War for Talents“ bis zur Suche nach den Diversen.
Phase 1: Die Produktion des Serienmenschen
Beginnen wir im 19. Jahrhundert, bei Individuen namens Ford und Taylor und bei der Verbreitung industrieller Formen der Warenproduktion und distribution, auch industrielle
Revolution genannt. Sie bedeutet die radikale Abkehr vom Handwerk, das – zwar rigide zunftgeordnet, aber auch mit viel Raum für individuelle Meisterschaft – seit dem Mittelalter
die Produktion geprägt hatte. Sinnbild der neuen Entwicklung hin zu Standardisierung und Automatisierung von Prozessen ist das Fließband, das nach ersten Versuchen Anfang des 19. Jahrhunderts von Henry Ford perfektioniert wird. Im Jahr 1913 setzt er erstmals ein Fließband bei der Automobilfertigung ein, auf dem die Autos zu verschiedenen Fertigungsstationen transportiert werden. Der Arbeiter (ein Individuum!) wird bei Ford danach entlohnt, wie schnell er bestimmte mechanische Arbeitsschritte ausführen kann. Den philosophischen Unterbau für dieses System bildet dabei der sogenannte Taylorismus, das von Frederick WinslowTaylor (1856–1915) begründete Prinzip einer Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen, u.a. mit den Schwerpunkten: extrem zerlegte Arbeitsaufgaben, detaillierte Zielvorgaben bei für den Einzelnen nicht erkennbarem Zusammenhang mit dem Unternehmensziel. Ford, Taylor und das Fließband stehen also nicht nur für die Herstellung von Serienprodukten, sondern auch für die Produktion des Serienmenschen, der roboterhaft arbeiten, sozusagen bewusstlos funktionieren soll. Anfänglich als Revolutionäre der Effizienz gefeiert, sehen sich Ford (und das Fließband in seiner ursprünglichen Form) sowie Taylor (und seine „Wissenschaft“) bald vehementer Kritik ausgesetzt: Mechanische Arbeitsprozesse und die Monotonie des Arbeitstages führen zu Ermüdung und Abstumpfung des Menschen und zur Entwertung der Arbeitskraft. Das FließbandSystem isoliert und entmenschlicht den Arbeiter. Ab Mitte der 1930er Jahre setzen deshalb bereits Gegenbewegungen ein. Mit den deutlich sichtbaren Missständen
in stark rationalisierten Betrieben wächst die Erkenntnis, dass maschinell hergestellte Roboter die besseren „Serienmenschen“ sind.
Phase 2: Die Humanisierung der Arbeitswelt
Humanisierung und Demokratisierung der Arbeitswelt sind nun die neuen Schlagworte. Der Denkansatz und Begriff „Human Relations“ entsteht, Mitarbeiter werden stärker ins wirtschaftswissenschaftliche Denken und ökonomische Handeln einbezogen. Ab den 1960er Jahren propagieren Verhaltenswissenschaftler, dass der Mensch nicht als isoliertes, nur funktionelles Wesen, sondern als Mitglied einer Gruppe, zu der er eine mehr oder weniger starke Zugehörigkeit entwickelt, zu betrachten und zu behandeln sei. Die Tendenz ist eindeutig: Das Interesse gilt immer mehr dem Menschen und seinem Verhalten, Wirtschaften wird als Teil des sozialen Handelns betrachtet. Konsequenterweise öffnet sich auch die Betriebswirtschaftslehre solchen Fächern wie Marketing, Organisationslehre, Personalmanagement. Neue Forschungsfelder werden beackert. So beschäftigen sich Forscher verstärkt mit Gruppenphänomenen, sozialen Interaktionen, mit Arbeitszufriedenheit und neuen, eher kooperativen Führungsstilen. Man untersucht die Auswirkungen veränderter Arbeitsbedingungen auf die Arbeitsproduktivität. Im Rahmen soziologischer Feldstudien verkleinert man z. B. zunächst die Arbeitergruppen und Arbeitsräume, führt mehr soziale Freiheiten und einfachere Prozesse ein – sogar individuelle Gespräche mit Vorgesetzten werden möglich. Zu den bedeutsamsten Ergebnissen solcher Studien zählen:
1. Soziale Gruppenbeziehungen und freundliche Führung haben mehr Einfluss auf die Produktivität der Arbeiter als die Arbeitsbedingungen.
2. Zu den Hauptaufgaben des Managements muss die Beschäftigung mit den Bedürfnissen und auch mit der psychologischen Verfassung der Arbeiter und Arbeiterinnen gehören. Der Manager muss von der Rolle des Kontrolleurs in die Rolle des Vermittlers zwischen Beschäftigten und höherem Management wechseln.
Phase 3: Die Züchtung von „Alphatieren“
Die Hinwendung zum Individuum in den Organisationen geht ab den 1970er Jahren weiter. Allerdings unter anderen Vorzeichen: Die Märkte verändern sich rasant und der Wettbewerb „globalisiert“ sich immer stärker. Der Innovationsdruck auf Unternehmen wird deutlich höher, der demografische Wandel führt zu einem Mangel an Fach-und Führungskräften und die Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft zum gesteigerten Bedarf an innovationsfähigen
Mitarbeitern. Seit den 1990ern gilt außerdem: Das Internet erhöht die Transparenz der Arbeitsmärkte dramatisch, wodurch sich der Wettbewerb um „High Potentials“ weiter verschärft. „In order to keep the pipeline full of talented people, almost all of the companies are starting to take nontraditional approaches to recruiting.“ So beschreibt es Ed Michael, Direktor bei McKinsey und (zusammen mit Helen HandfieldJones und Beth Axelrod) Autor des Buchs „The War for Talent“ von 1998. Die verschärfte globalökonomische Situation lässt neue Formen der Talentsuche und Bewerberauswahl entstehen (Stichworte: Talentscouts, Hochschulkontaktund
Rekrutierungsmessen). Die Einstellungspolitik nennt sich jetzt potenzialorientiert und verknappt das Angebot an guten Nachwuchskräften zusätzlich. Es gilt: Das Personalmanagement wird zur Innovationsquelle für die Unternehmen. Aber welche Art von Potenzial und Talent ist eigentlich gemeint?
Wer sind „die Besten“, die man da sucht, was ist die Rekrutierungshaltung dahinter? Es ist die Haltung der Extremselektion, die sich so äußert: Es gibt nur wenige Talente, die es zu fördern lohnt; und diese suchen wir im Grunde nach dem immer gleichen Raster: Männer, Inländer, Akademiker (möglichst 1,0Absolvent), mit exorbitantem Durchsetzungsvermögen, flexibel, effizient, zielgerichtet, willensstark. Bestenfalls auch noch gesegnet mit Mehrsprachigkeit und reichlich Sozialkompetenz. Den Stellenanzeigen (aller ambitionierten Unternehmen) in den 1990er Jahren ist zu entnehmen: Das Ziel ist Elitenreproduktion. Gesucht und in Serie gezüchtet wird das (klassische) „Alphatier“.
Phase 4: Die Pflege der Diversen
Spätestens seit der Jahrtausendwende ist ein nächster Erkenntnisschub in der Geschichte der Individuen in Organisationen spürbar. Ausgangspunkt ist bereits vorher der Blick auf die Minoritäten. Dazu zählen klassischerweise Behinderte, Homosexuelle, Vertreter verschiedener Ethnien, aber auch Jugendliche oder ältere Mitarbeiter. Und auch die Bemühungen um Frauen laufen nun nicht mehr unter dem Begriff Gendermanagement, sondern fließen ein in die beginnende Diskussion um Diversity. Der Grund für diesen neuen Blick auf die Vielfalt liegt darin, dass sich Organisationsverantwortliche angesichts immer komplexer, turbulenter und diverser werdender Märkte fragen müssen: Wie kann man dieserKomplexität in den Unternehmen gerecht werden, wie können wir die Kompatibilität mit diesen Märkten und den
Zugriff darauf herstellen bzw. erhöhen? Ein Lösungsansatz scheint zu sein: durch unverkrampften, respektvollen und konstruktiven Umgang mit personeller Vielfalt. Es geht neuerdings um spürbare und nachhaltige Wertschätzung der unterschiedlichen Mitarbeitergruppen. Denn wenn die unterschiedlichen Beschäftigten gut ins Unternehmen integriert sind, steigen z. B. Motivation und Zufriedenheit der Minderheiten. Es gibt weniger Reibungsverluste und Diskriminierungen, weniger Absenzen und Kündigungen. Alles auch eine Geldfrage. Aus einstmals emanzipatorischen Prozessen und Anliegen der Antidiskriminierung
und Chancengleichheit wird ein Produktivfaktor. Im Sinne der Vielfalt gemanagte Unternehmen können flexibler und schneller auf Umweltveränderungen reagieren, sind also adaptiver. Und: Unternehmen mit cleverem sogenanntem Diversity Management fallen am Arbeitsmarkt
angenehm auf. Es fällt ihnen leichter, zu rekrutieren und Kompetenzen in multikultureller Kommunikation und Konfliktlösung zu entwickeln. Unternehmen, die sich bemühen,
ihre Mitarbeitergruppen als wettbewerbsrelevante und unter nehmensspezifische Ressource zu betrachten, sind multikultureller, komplexer und haben bessere Chancen, erfolgreich zu sein. Kann es denn noch individueller werden?
Phase 5 (jetzt): Jedes Individuum ist eine Minderheit
Den Unternehmen stellt sich heute – folgerichtig – eine wahrscheinlich zukunftsentscheidende Frage: Wie löst man Diversität vom Gruppengedanken? Wie schafft man es, jeden Einzelnen mit seinen Stärken wahrzunehmen und zu fördern, denn: Im Grunde ist ja jedes Individuum eine Minderheit. Die tolle Idee der Stunde, die im Prinzip keinen Widerspruch erlaubt, lautet also: Individuen sind UnternehmensKostbarkeiten – und deshalb muss jeder Einzelne gefördert, muss der Potenzial- und TalentSchatz jedes Mitarbeiters gehoben werden. Aber kann eine Organisation das: sich wirklich um jeden kümmern, Individualität wirklich verstehen und unterstützen, die Arbeitsbedingungen so persönlich gestalten, dass optimale Leistungsfähigkeit möglich wird?
Sie kann, zum Beispiel so: Motivation und Belohnung neu denken
Beim Bau eines Münsters wird drei Steinmetzen die gleiche Frage gestellt: Was tust du? Der erste antwortet: „Ich bin Steinmetz und fertige wunderschöne Steine.“ Der zweite antwortet: „Ich verdiene mein Geld.“ Der dritte schließlich antwortet (voller Stolz): „Ich baue eine Kathedrale!“ Will meinen: Oft haben Menschen für das, was sie tun, höhere als selbstbezogene Motive / Bedürfnisse: Das Bedürfnis, Ziele zu erreichen und / oder selbstgesteuert zu arbeiten. Oder das Bedürfnis, andere zu Leistung und Wachstum zu inspirieren. Oder das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Jede Führungskraft (oder besser: die ganze Organisation) sollte sich diese höheren Motive erschließen – und zwar ohne Manipulation und emotionale Bestechungsversuche. Menschen wollen und können sich einer Sache (Organisation) anschließen – auf Basis ihres freien Willens. Das bedeutet in der Organisationswelt von heute ganz konkret: die Abkehr von standardisierten Förderungsmaßnahmen, etwa Bonus-und Lobsystemen. Sie sind schlicht nicht individuell genug, schaffen nur Vereinheitlichung auf dem kleinsten gemeinsamen Level. Stattdessen dringend empfehlenswert ist die wirklich ernsthafte Beschäftigung mit der Frage, warum Menschen die Dinge tun, die sie tun. Die Art und Weise, wie eine Organisation diese Fragen beantwortet, führt zu einer spezifischen Unternehmenspolitik und zu Vorgehensweisen, die enormen Einfluss darauf haben, wie das Unternehmen im Ganzen agiert. Ohne verstanden zu haben, was die Menschen in einer Organisation wirklich motiviert, das Beste und Höchste aus sich hervorzubringen, entwickeln Organisationen Belohnungsformen, die eigentlich gegen die innere Motivation ihrer Mitarbeiter gerichtet sind. Und damit kontraproduktiv.
Echtes Interesse für Persönlichkeiten zeigen
Ist es nicht eine ziemlich unvernünftige Forderung und vielleicht sogar Überforderung der Unternehmen, sich solchermaßen in die Verästelungen individueller Situationen zu begeben? Gar nicht. Es ist vielmehr die logische Konsequenz, das ZuEndeDenken des Postulats von der großen neuen Flexibilität. Lange waren es nur die Unternehmen, die nach den superflexiblen Mitarbeitern verlangt haben – jetzt schlägt das Individuum zurück: Weniger denn je lassen sich die vielen gesuchten fähigen, selbstbewussten, intelligenten und kreativen Mitarbeiter – jede und jeder für sich eine eigene Persönlichkeit – über einen Kamm scheren. Sie waren / sind flexibel, haben sich angepasst und kennen ihren (neuen) Spielraum. Sie lassen sich immer weniger mit dem Verweis auf allgemeingültige Regeln und auch immer weniger per negativer Angst (um den Arbeitsplatz, um die Position) disziplinieren. Den Unternehmen wird nichts anderes übrig bleiben, als eine Initiative pro Superflexibilität zu starten. Sie müssen sich jetzt für ihre Persönlichkeiten – und für das, was diese können und brauchen – echt interessieren; so wie sich diese Persönlichkeiten für das Unternehmen und das, was es braucht, echt zu interessieren haben. Im Sinne gegenseitiger Stärkung und Zukunftsfähigkeit.
Eine neue Kultur der Kostbarkeit
Neu ist also: Es reicht nicht mehr aus, Topmanager individuell zu behandeln und zu beraten (das ist ja schon länger bzw. immer so). Es wird vielmehr wettbewerbsentscheidend für Unternehmen sein, ihre Mitarbeiter als erwachsene, eigensinnige, spezifische Persönlichkeiten zu schätzen –
und entsprechend zu fordern und zu fördern. Denn, wie Antonio Machado sagt: „Wie ich’s auch drehe und wende, ich finde keine Rechenart für das Zusammenzählen von Individuen.“
Wenn Organisationen das, was dem Menschen kostbar ist, was ihn besonders macht, nicht wirklich verstehen und anerkennen, werden diese es nicht in ihre Arbeit einbringen. Sie werden versuchen, es zu schützen, vor dem „Moloch Organisation“ geheim zu halten. Das zu wissen und danach zu handeln, ist zentral für Unternehmen, die eine Kultur der Kostbarkeit anstreben.
Eine Koproduktion mit Dr. Sabina Schoefer
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