The long read - 10 Mikroportraits für den Teil Leben des Magazins kid's wear
Rewind
10 große Frauen und Männer (als sie noch klein waren)
01 „Das Kind soll noch höher hinaus.“
Elfriede Jelinek, Literaturnobelpreisträgerin
Eigentlich sollte es Wien werden. Die Stadt der Musik. Als die Wehen einsetzen, ist Mutter Ilona allerdings in der Steiermark. Hoch oben, auf fast 1000 Metern Höhe, wird „Elfi“ mit der Zange auf die Welt geholt. Die Mutter findet: Das Kind soll noch höher hinaus. Es zu etwas bringen. Versucht wird Verschiedenes. Zunächst Ballettunterricht, dann Instrumente: mit sechs Klavier, mit neun Blockflöte, Geige, Gitarre und Bratsche, dann Orgel. Die Fenster immer offen. Wegen der Nachbarn. Sch ü chtern und hyperaktiv zugleich ist die junge Elfriede, und tatsächlich ü beraus musikalisch: Mit 13 beginnt sie am Konservatorium Wien als j ü ngste Studentin weit und breit eine Karriere als Berufsmusikerin. Vater Friedrich, der an Alzheimer erkrankt ist, lebt in seiner eigenen geschlossenen Welt. Mutter Ilona will weiter nur das Beste. Was f ü r Elfriede heißt: Klosterschule statt Petticoat, Finger ü bungen statt Händchenhalten. Sie reagiert mit Extravaganz, trägt Männerpullover, zentimeterkurzes Haar und dick umrandete Augen, revoltiert leise. Mit 14 mehren sich die Anzeichen einer psychischen Krise. Die verordnete Gesprächstherapie kann die Ursache der Störung nicht beheben, bringt aber eine weitere Spezialität hervor: die Fähigkeit zur Selbstanalyse.
–
02 Superbrat
John McEnroe, Tennisspieler
John McEnroe wird 1959 in Wiesbaden, Deutschland, geboren, genauer: auf einer amerikanischen Air Force Base, wo sein Vater arbeitet. Er ist ein wildes, ungeduldiges Kind, mit struppigem Haar und Geist. Zu Hause wird er Junior genannt, in Kindergarten und Schule schon fr ü h Superbrat (Extremflegel). Er ist zunächst winzig f ü r sein Alter, aber schon fr ü h voller Energie. Als er mit 18 Monaten mit seinem Vater im New Yorker Central Park spielt, haut er mit voller Wucht gegen einen Plastikball, der unglaublich weit fliegt. Eine Lady, die vorbei kommt, nennt ihn Kraftzwerg.
John entwickelt einerseits die smarte Ironie eines wohlbeh ü teten Kindes, neigt andererseits zum Jähzorn. Es ist bei ihm wie bei Max aus Wo die wilden Kerle wohnen : Wenn eine Kleinigkeit nicht stimmt, hat er Ausbr ü che von fieser Intensität. Er beruhigt sich aber auch binnen Sekunden wieder – und hängt dann total relaxed in der Spielecke ab. John wird zu der Art Junge, der Gäste seiner Eltern unterhält, indem er unfassbar lange Zahlen im Kopf multipliziert und dividiert. Er beherrscht aber auch die Killertaktik, um Erwachsene zu zerm ü rben: Wiederholungen, Wiederholungen, Wiederholungen. Ich will das. Ich will das. Ich will das.
Als Sch ü ler an der Buckley Country Day School und später an der Trinity High, der ältesten Schule in New York, ist er sehr gut in Latein und absolut herausragend in allem, was mit Sport zu tun hat: John ist Quarterback in der Football-Mannschaft, Spielmacher im Basketballteam, Mittelst ü r mer im Fußball. (Übrigens treibt die Mutter seinen Ehrgeiz an. Wenn er 95 Prozent in einem Text erreicht, fragt sie ihn: „Was ist mit den restlichen f ü nf Prozent passiert?“) John will schon als kleiner Bursche immer Erster sein (und vor allem besser als sein älterer Bruder Patrick). Mit neun fängt er an Tennis zu spielen (und sein Vater scherzt später: Ich habe John zwei Jahre am St ü ck geschlagen, zwischen neun und elf). Mit 15 ist er Balljunge bei den US Open, ü ber seinem Bett hängen Poster von Rod Laver, Farrah Fawcett und Björn Borg.
Beim Tennisspielen zeigt sich allerdings auch bald Johns großes Problem: Er kann keine Freude bei dem empfinden, was er tut.
–
03 Mister
Martin Kippenberger, K ü nstler
Martin (liebevoll der Dicke, Mister oder Kerlimann genannt) kann nicht meckern. Vater und Mutter lieben ihn (die vier Schwestern auch). Außerdem ist zu Hause – in den 1960ern in Essen-Frillendorf – immer was los. Da gibt es ein tolles Haus mit einer Art Parkgarten. Und es wimmelt von Tieren (H ü hner, Fische, Kröten, Enten) oder anderen Kindern oder Verwandten. Ganz hinten im Garten hat Martin eine eigene H ü tte, die Martinsklause. Seit er einen Stift halten kann, zeichnet, malt und bastelt er. Schule ist nix f ü r Martin, er kann nicht still sitzen. Macht lieber Spaß, kritzelt Schulhefte mit Lehrerkarikaturen voll. Man darf sagen: Martin hasst B ü cher (die offizielle Diagnose lautet: Legastheniker). Daf ü r liebt er die gesprochene Sprache. In der dritten Klasse bleibt er sitzen. Mit neun kommt er ins Internat (im Schwarzwald). In die Ferien fährt die ganze Familie („Mutti, Pappa, Martin, Babs, Bettina, Bine, Sannilein“) nach Holland, ins Land, wo es Pudding aus der Flasche und Pommes von der Bude gibt. Da wird gegessen, geschlafen, am Strand gegammelt und Mau-Mau gespielt. Es wird viel gefeiert im Hause K., auch einen offiziellen „Kindertag“ gibt es (den f ü hren die Eltern ein, wegen der Gerechtigkeit). Auf den Festen tanzt Martin wie ein Irrer. Er ist ü berhaupt ziemlich speziell, anders als andere Kinder, phantasievoller, aber auch ängstlicher. Martin ärgert gern andere, fängt aber selbst schnell an zu heulen. Auch bei seiner Konfirmation, da allerdings ger ü hrt von seiner eigenen Rede.
–
04 „Das ist aber ein Schlangenmensch.“
Philippine Bausch, Tänzerin und Choreografin
Philipine, oder später kurz Pina, ist eine „Wirtstochter“. Das bedeutet: Sie ist schon fr ü h viel allein, auf sich gestellt. Ein Familienleben im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Oft sitzt Pina bis zwölf oder eins unter einem der Wirtshaustische. Dann wird Pina von Bekannten zum Kinderballett mitgenommen. Zum Gucken, und vielleicht zum Ausprobieren. Auf dem Bauch liegend, dabei die Beine an den Kopf verrenkt, fällt das kleine Mädchen unter kleinen Mädchen auf. Die Lehrerin lobt: „Das ist aber ein Schlangenmensch.“ Pina ist total gl ü cklich, freut sich. Die Aufmerksamkeit bedeutet ihr viel. Der Ballettunterricht ist jetzt die Abwechslung vom Wirtshaus. „Es war erst mal gar nichts. Ich bin einfach hingegangen und wurde dann immer f ü r kleine Kinderrollen Tänzerin und Choreografin herangezogen, in Operetten als Liftboy oder ich weiß nicht was, im Harem der Mohr, der fächeln musste, oder ein Zeitungsjunge, irgend so etwas. Und da hatte ich immer unheimlich viel Angst.“ Mit 15 beginnt Pina, die nun weiß, dass sie Tänzerin werden will, ihr Studium an der Tanzabteilung der Folkwang-Schule in Essen.
(Die Angst wird sie ihr Leben lang begleiten. Sie wird sie aber nicht lähmen.)
–
05 Closer*
Ian Kevin Curtis, Songwriter, Sänger und Gitarrist der Band Joy Division
In Manchester geboren, verbringt Ian seine ganze Kindheit in der Kleinstadt Macclesfield, im Nordwesten von England. Sein Vater ist Polizist. Vorbilder sind fr ü h andere, zum Beispiel die Autoren William Burroughs und Joseph Conrad. Später kommen Velvet Underground, Iggy Pop, David Bowie und die Sex Pistols dazu. Ian verfasst als Kind Gedichte. Und fällt auf. Mit gerade einmal elf Jahren bietet man ihm ein Stipendium an. Ian entscheidet sich gegen einen weiterf ü hrenden akademischen Weg. Er wählt ganz und gar und nur die Musik. Drogen spielen bereits in Ians fr ü hester Jugend eine Rolle. Valium in großen Mengen. Jetzt zeigen sich auch die ersten Anzeichen seiner Epilepsie. Ian denkt (fälschlicherweise), dass die Krankheit mit den Drogen zusammenhängt. Dann ist sich Ian sicher: Vor meinem dreißigsten Geburtstag sterbe ich.
* 1980 erscheint posthum das Album Closer , entstanden wenige Monate vor Ians Selbstmord mit 23 Jahren.
–
06 Das bettlägerige Kind
Andy Warhol, Pop Artist
Andy ist der j ü ngste von drei Söhnen. Seine Eltern haben slowakische Wurzeln (Immigranten aus dem Dorf Miková). Eigentlich heißen sie „Varchola“, woraus in Amerika „Warhola“ wird. Bis Andy, eigentlich „Andrew“, später „Warhol“ daraus macht. Mit acht bekommt Andy nicht nur einen Nervenzusammenbruch (wiederholt sich später), sondern auch eine Pigmentstörung. Deshalb hält man ihn lange f ü r einen Albino. Der kranke, bettlägerige Andy ist Comic-, Magazin- und Kinofilm- s ü chtig. Er hört Radio, beginnt zu zeichnen, zu malen. Seine Mutter Julia, zu der in dieser Zeit die tiefe, intensive Bindung entsteht, liest ihm am Bettrand Dick Tracy vor. Zu Essen gibt’s Campbell– Dosensuppe, zu trinken Coca-Cola. Als Andy 13 ist, stirbt sein Vater, ein Grubenarbeiter, bei einem Unfall.
–
07 Hospital der Geister
Lars Holbæk Trier, dänischer Extremfilmemacher
Lars’ Vater ist Jude und flieht während der Nazizeit nach Schweden, Lars’ Mutter ist missionarisch antireligiös. Beide arbeiten als Beamte; die Mutter unter anderem f ü r das dänische Sozialamt. Lars hat fr ü h Angst (Phobien unterschiedlichster Art) und einen massiven Kontrollzwang. Ordnen, regulieren, sortieren. Sein Überwachen-M ü ssen/Wollen weckt aber auch die Faszination f ü r das Filmen. Von seiner Mutter bekommt Lars eine Super-8-Kamera geschenkt. Und kontrolliert los. Mit zwölf Jahren wechselt Lars versuchsweise vor die Kamera und spielt in einer dänischen Kinderfernsehserie mit. Im selben Jahr zieht er vor ü berhegend in ein Heilungszentrum oder, wie er es später als Lars von Trier nennt: in eine „Irrenanstalt“.
–
08 „Du kennst ja nicht mal meinen zweiten Vornamen.“
Margot Helen Tenenbaum, Drama Girl
Margot Helen wird als Zweijährige adoptiert, von Etheline und Royal Tenenbaum. Sie hat schönes, blondes, glattes Haar, ist extrem schlank, steht/lehnt gern in Ecken, trägt dabei bevorzugt (oder eigentlich immer) geringelte Lacoste-Tenniskleidchen, am liebsten das hellblau-weiße, dar ü ber etwas Pelzartiges. Margot Helen macht schon als Kind einen dauergeknickten, um nicht zu sagen: depressiven Eindruck. Sie f ü hlt sich nie richtig gewollt von den Tenenbaums, zumindest von ihrem Vater nicht: Wenn er Margot Fremden vorstellt, erwähnt er grundsätzlich ihren Status „adoptiert“, er enthält ihr die Großmutter vor und vergisst sogar, dass Margots zweiter Vorname Helen auf eben diese Großmutter verweist. Margot Helen hat brillante Stiefgeschwister, weil Mutter Etheline größten Wert auf eine exzellente Förderung der Kinder legt. Richie ist ein fr ü hreifer Tenniscrack und Chas ein Erfinder und Geschäftsmodellwunder. Aber auch Margot hat etwas Geniales. Vor allem musisch hochbegabt, hat sie Ballettunterricht, schreibt St ü cke (und gewinnt schon in der 9. Klasse das Braveman-Stipendum in Höhe von 50.000 Dollar), baut B ü hnenbilder, fotografiert und entwickelt Fotos in ihrer eigenen Dunkelkammer. Am Abend ihres 11. Geburtstags f ü hren die drei Tenenbaum-Kinder Margots erstes St ü ck auf, das Vater Royal aber f ü r „nicht glaubw ü rdig“ hält. Auf die Frage, wie ihm die Charaktere gefallen, antwortet er: „Was f ü r Charaktere? Das sind nur Kinder in Tierkost ü men.“ Margot Helen verabschiedet sich daraufhin innerlich f ü r immer von ihrem Stiefvater. Mit zwölf fängt sie an zu rauchen. Eines Wintertages haut sie mit Richie von zu Hause ab, die beiden kampieren im Naturkundemuseum, im ägyptischen Fl ü gel der Abteilung „Afrikanische Wildnis“. Sie teilen sich einen Schlafsack und ernähren sich von Käsecrackern und Limo. Margot Helen liebt Richie, so wie er sie. Mit 14 verschwindet sie allein, um ihre wirkliche Familie zu finden (irgendwo in Indiana). Als sie wiederkommt, fehlt ihr der Ringfinger der rechten Hand – der wirkliche Vater hat ihn aus Versehen abgehackt. Das „Drama Girl“ heiratet zum ersten Mal mit 19, auch da ist sie noch ein Kind.
–
09 Ab vier Klavier
Sergej Wassiljewitsch Rachmaninow, Komponist
Sergej wächst mit f ü nf Geschwistern auf. Drei sind älter, zwei j ü nger als er. Seine Mutter Ljubow Petrowna Butakowa geht reich in die Ehe (Ländereien). Sein Vater Wassili Arkadjewitsch Rachmaninow ist dagegen arm. Daf ü r nett, gutm ü tig und phantasievoll (er kann z. B. gut musikalisch improvisieren). Von Ökonomie hat Wassili jedoch keinerlei Ahnung und f ü hrt die Familie rasch in den finanziellen Ruin (alle Ländereien m ü ssen nach und nach verkauft werden). Schlecht f ü r die Ehe. Und es wird nicht besser. Also Trennung (Sergej, das „Scheidungskind“). Mit vier bekommt Sergej den ersten Klavierunterricht. Von seiner Mutter. Er bleibt dabei, ü bt und ü bt und besucht schließlich das Konservatorium. Weil er aber bei der Abschlusspr ü fung bei den Allgemeinfächern durchfällt, verliert er sein Stipendium und muss das Konservatorium schließlich verlassen (Geld ist ja keins mehr da). Sergejs Mutter bittet daher ihren Neffen Alexander Siloti, zu der Zeit aufgehender Piano-Star in Russland, um Hilfe. Der hört Sergej spielen, erahnt das große Talent und schlägt ihn f ü r die Moskauer Klasse des Klavierpädagogen Nikolai Sergejewitsch Swerew vor. Kindheit ade! Sergej kriegt die letzten 100 Rubel der Familie, fährt allein nach Moskau und lernt, lernt, lernt.
–
10 Der Überbelichtete
Christoph Schlingensief, Aktionskünstler, Regisseur und Autor
„Ich dachte immer, so jemand kann nicht sterben“ dachte wohl nicht nur Elfriede Jelinek, als sich Christoph Schlingensief gerade existentiell verausgabt hatte.
Schlingensief setzte sich in seinen Aktionen immer voll aufs Spiel, ohne Rücksicht auf Familie, Freunde, Ängste. Er wagte sich auch als Opernregisseur ins olle Bayreuth und überblendete dort Wagners „Parsifal“ mit toten Hasen, behinderten Freunden und Afrikakunst.
In seinem letzten Buch "Ich weiß, ich war‘s" erklärt Schlingensief, wo alles herkommt: seine Obsession für Überblendungen, Irritationen, Transformationen. Als Urszene beschreibt er einen Super-8-Filmabend 1968 im Wohnzimmer der Apothekerfamilie Schlingensief. Es läuft „Norderney-Urlaub“: Christoph sieht, wie seine Mutter und er am Strand liegen – über ihre Bäuche und durch sie durch laufen plötzlich Leute. Der Achtjährige ist geflasht. Das Bild der doppelbelichteten Bäuche wird zum Symbol dafür, was ihn angetrieben hat. Man kann nicht der werden, der man sein wollte. Weil man permanent neu belichtet wird.
made with Lay Theme