INTERVIEWfür Kid’s Wear Magazine „Youth & Media“
Willkommen in neuen Relevanzräumen: Die Diplom-pädagogin und Erzieherin Isabel Bonifert-Manig hat mit Kindergartenkindern das Zeitungsbuch erfunden.
Kinder im Vorschulalter können (meistens) nicht lesen. Wie kamst du auf die Idee, mit ihnen etwas zum Thema Tageszeitung zu machen?
Isabel Bonifert-Manig: Um ehrlich zu sein, war das nicht meine Idee. Der Impuls kam von den Kindern selbst. Es gab den Moment, in dem Franz gefragt hat: „Warum weiß meine Mutter eigentlich immer genau, was ich anziehen soll?“ Ich habe geantwortet: „Deine Mutter weiß eben, wie das Wetter wird.“ Darauf Franz: „Woher weiß Mama, wie das Wetter wird?“ Ich: „Aus den Wettervorhersagen. Die stehen in der Zeitung und werden im TV oder Radio durchgegeben.“ Dann hab ich den Kindern angeboten: Wir haben im Kinderhaus ja weder Radio noch TV, also bringe ich einfach mal eine Tageszeitung mit. Ich wollte Franz zeigen: Du kannst selber bestimmen, was du morgen anziehen wirst. Wenn du weißt, wie das Wetter wird. Dann hab ich die Zeitung tatsächlich mitgebracht, und wir haben uns ganz langsam übers Wetter an die ganze Zeitung rangetastet.
Erzähl mal etwas mehr über den Prozess. Wie wird aus der Beschäftigung mit der Zeitung das Zeitungsbuch? Was genau machst du mit den Kindern?
Wir verknüpfen die Nachrichten aus der Welt und die aus der Region der Tageszeitung mit dem, was tagtäglich bei uns im Kinderhaus passiert. Und zwar mit gleicher Gewichtung: Pits Geburtstag ist genau so wichtig wie dass Obama Präsident geworden ist. Es ist super interessant, die „Redaktionsarbeit“ zu beobachten, die Kommunikation der Kinder untereinander, wie sie sich über Themen verständigen:„Was glaubst du, ist das hier interessant?“ „Ja, das kenn ich.“ Die Kinder blättern also die Zeitung durch und sammeln ihre Favoriten-Nachrichten. Die schneiden sie dann aus tun sie in ein Körbchen. Dann darf jedes Kind seine Nachricht aus dem Körbchen rauspicken, vorstellen und begründen, warum die in unser Zeitungsbuch gehört. Wird eine Nachricht oder ein Bild für besonders gut befunden, wird es in unser Zeitungsbuch geklebt. Und ich schreibe im O-Ton auf, was die Kinder dazu gesagt haben. Es geht also z.B. Lea zum Körbchen, holt ein Foto heraus und sagt: „Ich hab dieses Gebäude hier ausgeschnitten. Das steht in Paris, da kann man mit dem Aufzug hochfahren, das weiß ich von meinen Eltern.“ Und Max meldet sich und sagt: „Ja, da waren meine Eltern schon mal. Und ich durfte an dem Wochenende zu Oma und Opa nach Augsburg, das war schööön.“ Der verknüpft also den Eiffelturm mit dem wunderschönen Wochenende bei den Großeltern. Und schon haben wir eine neue Geschichte, einen neuen Kontext.
Deine Rolle ist vorrangig die Kinder zu unterstützen?
Ich bin immer zur Stelle, rege an und dokumentiere das Ganze. Wichtig dabei scheint mir: Man muss das Medium Zeitung selber mögen und das den Kindern auch zeigen. Ich blättere oft einfach in der Zeitung und sage dann laut: Oh, das gibt’s doch gar nicht, was ist denn da wieder passiert. Naturkatastrophe in Indien. Die Kinder müssen merken, dass man wirklich interessiert ist. Dann ist es auch für sie interessant.
Wie alt sind die Redakteure?
Drei bis sechs, Vorschulkinder eben.Einige von den Jüngeren haben noch echte Schwierigkeiten mit dem Ausschneiden. Oder mit anderen handwerklichen Dingen: Wie klappe ich die Zeitung auf, wie entsorge ich Werbebeilagen, wie blättere ich, wie merke ich mir, wo die interessanten Teile sind? Ganz durchblättern und eine Seite wieder zurück, heißt: Da ist das Wetter.
Gibt es einen Chefredakteur?
Chefredakteur ist immer der, der das Zeitungsbuch gerade bearbeitet. Er muss sich um Organisatorisches kümmern, einen Arbeitsplatz vorbereiten, eine Unterlage holen, eine Schere, Stifte, Kleber. Und er muss die anderen Kinder beteiligen, zum Beispiel, indem er fragt: „Wer macht das
Bild des Tages?“
Bild des Tages? Ist das eine feste Rubrik? So wie die Nachricht des Tages?
Die Nachricht des Tages wird in der Tageszeitung gesucht und dann kommentiert oder diskutiert. Was dabei herauskommt, ist für uns Erwachsene oft auf smarte Weise unspektakulär, zum Beispiel: Die Nachricht des Tages: Eine Frau lacht. Oder: Die Nachricht des Tages: Falsches Wetter. Die haben sich vertan. Das Bild des Tages wird immer von einem Kind selbst und frei gestaltet. Da entstehen – übers ganze Zeitungsbuch gesehen – ganz unterschiedliche, fantastische Dinge. Von Krikelkrakel über Frottagen bis zu feinen Abpausarbeiten. (Isabel holt eins der Zeitungsbücher und blättert) Oft diskutieren wir auch dieses Bild des Tages dann in der Gruppe. Hier ging es zum Beispiel um ein Bild mit Kasper und Räuber. Franz meinte dazu (Isabel zitiert aus dem Zeitungsbuch): „Der Kasper ist stärker als der Räuber. Warum haut der den Räuber tot? Ich sage es dir: Ich weiß es nicht.“
Gibt es noch andere Rubriken?
Es gibt noch die – oft sehr philosophische – Frage des Tages. Die lautet zum Beispiel: Tut Altwerden weh? Darauf antwortet Pit dann (Isabel liest wieder aus dem Zeitungsbuch vor) „Manchmal nicht, manchmal schon. Es tut weh, wenn man Enkel hat. Weil man sich eigentlich freut, und dann bekommt man so ein Weh im Bauch, weil man weiß, dass man alt ist und nicht mehr so kann wie früher. Aber ich weiß es nicht, ich war ja noch nicht alt. Wie ist das bei dir, Isabel?“ Oder, eine andere Frage des Tages: Kann man aufhören zu denken? Dazu Paul: „Nein. Aber bei Yoga muss man.“ Pit: „Ist nicht zu stoppen.“ Maria: „Bei uns zu Hause ist nachdenken verboten.“
Erzähl noch etwas mehr aus dem Produktionsalltag.
Ich sage zu keinem Zeitpunkt: Diese Nachricht nehmen wir nicht. Oder: Diese Nachricht ist weniger wichtig als jene. Für mich ist am spannendsten zu sehen: Was interessiert die Kinder wirklich? Man merkt nämlich schnell, dass jedes Kind seine ganz eigenen Themen hat oder entwickelt. Paul schaut zuerst in jeder Werbebeilage nach Autos. Sofia findet die Kunstseite im Feuilleton toll, guckt sich Gemälde und Ausstellungsfotos und so etwas an.
Wie lange dauert das Projekt?
Nachdem ich zuerst mehrmals meine eigene Zeitung mitgebracht hatte, hab ich irgendwann gesagt: Die Kinder sind so interessiert, lasst uns fürs Kinderhaus eine Zeitung abonnieren, damit wir sie immer parat haben. Da war klar, das ist kein Dreitagesprojekt. Seit Beginn, im Oktober 2007, habe ich versucht, wirklich jeden Tag mit den Kindern an unseren Zeitungsbüchern zu arbeiten. Dass wir mal einen Tag ausgesetzt haben, ist die Ausnahme.
Das Ganze ist also ein ausdauerndes, tragendes Projekt, das ich allerdings jetzt im Sommer auslaufen lasse.
Wie viele Zeitungsbücher sind entstanden?
Vier, bis jetzt. Ich hab das Projekt mal an einem Elternabend vorgestellt, um den Eltern einen Einblick und die Sicherheit zu geben, dass es natürlich keine bösen Themen wie Kindesentführung und -missbrauch oder Angst einflößende Bilder zu sehen gibt. Als die Eltern die ersten Seiten des ersten Zeitungsbuchs gesehen haben, waren sie eigentlich alle begeistert und erstaunt, wie die Kinder auf Nachrichten reagieren. Wie sie sich Dinge und die Welt selbst erklären. Für die Eltern sind die Zeitungsbücher natürlich ein tolles Dokument. Sie bekommen mehr über das eigene Kind heraus. Womit hat es sich beschäftigt, wo sind Interessen und Stärken? Auch: Wie entwickelt es sich sprachlich? Deshalb liegt das aktuelle Zeitungsbuch auch am Eingang unseres Kinderhauses aus. Da wird täglich drin geblättert. Es ist deutlich, dass das Assoziative sehr wichtig ist für die Kinder. Sie wollen etwas wiedererkennen, ein Gebäude, einen Ort, ein Ding, eine Person – und dann mehr darüber wissen, das vertiefen. Die Eltern erzählen mir jetzt von Diskussionen zu Hause, in denen die Kindern sagen: Das habe ich heute im Kinderhaus schon gelesen. Die sagen wirklich: gelesen.
Warst du auch überrascht von dem, was die Kinder verstehen, „lesen“ und gestalten können?
Ich war – wie die Eltern – zuerst total baff, wie interessiert und offen die Kinder auf alle möglichen Themen anspringen. Und wie sie versuchen, die Welt in Worte zu fassen. Wenn Fünfjährige beschreiben, was sie in der Zeitung sehen und aus den Bilder herauslesen, ist das für uns Erwachsene einerseits oft zum Schreien komisch. Andererseits haben sie, ohne Ahnung zum Beispiel von Politik, eben ihren ganz eigenen assoziativen Zugang und sind oft ganz klar und scharf in ihrer Interpretation. Sie erkennen zum Beispiel auch extrem verzerrte prominente Politiker in Cartoons. Zu einer solchen Karikatur meinte Max einmal: „Wenn einer oben steht und unten einer hackt, dann fällt der oben bald runter.“ Das hat etwas Philosophisches. Daraus kann ich für meine weitere pädagogische Arbeit natürlich unheimlich viel ziehen. Anderes Beispiel. Ich fragte Clara: „Möchtest du heute die Zeitung machen?“ Und sie sagte: „Ach so, du meinst wegen Obama.“ Die hatte damals den Obama-Hype schon mitbekommen. und wir unterhielten uns dann darüber, wer Obama ist usw. Und sie sagte: „Das ist der Präsident von Amerika, so wie die Frau Merkel bei uns.“ Dann schaltete sich Paul ein: „Das ist total interessant, weißt du. Früher, da waren nämlich die Schwarzen die Sklaven, die durften nicht bestimmen. Jetzt, zum ersten Mal, darf ein Sklave bestimmen. Und das find ich so richtig gut, dass der jetzt der Bestimmer ist.“ Die Kinder sind ziemlich klar in Themen und Diskussionen. Die sind scheuklappenlos. Ich denke oft: Was für unglaublich gute Ideen die haben, wie klar die sind, wie scharf die analysieren und wie klug und originell die erklären können? Es geht auch ganz schnell, dass die Kinder neue Zusammenhänge schaffen, Kontexte erweitern: Einmal stand etwas über eine Schlägerei in Meckenheim in der Zeitung. Zwei Jugendliche haben einen anderen verprügelt. Da kam dann sofort von den Kindern: „Ja, heute der Streit in der Bauecke, der war auch nicht in Ordnung.“ Und schon hatten wir eine dezent moralpädagogische Diskussion am Start, in der es darum ging, warum Prügeln nicht in Ordnung ist. Nach dem Motto: Haut euch hier nicht die Zähne ein, sonst steht ihr später in der Zeitung, weil ihr jemanden richtig umgehauen habt.
Was bedeutet dir das Zeitungsbuch-Projekt?
Ich sehe mich ja nicht als moralische Tante, die den Kindern erklärt: So funktioniert die Welt. Sondern als jemanden, der die Potenziale von Kindern wecken und rauskitzeln will. Dafür muss ich oft nicht viel tun, mal einen Gedanken einstreuen, dezent fragen: Was macht ihr mit dieser Geschichte, mit diesem Bild, wie erklärt ihr euch das? Und schon denken und sprechen die los. Für mich ist das ganze Projekt rund um die Tageszeitung ein riesiges Aha-Erlebnis, was die Kleinen in dem Alter schon drauf haben. Das kann man herauskitzeln oder eben brach liegen lassen. Ich bin für Herauskitzeln.