DOPPELINTERVIEWfür Kid’s Wear Magazine, „Geschwister“
Ein Gespräch mit Anja Steinig, Einzelkind
Was für ein Einzelkind warst du?
Ich war schüchtern, ich war gerne alleine und bestimmt auch etwas egoistisch; aber altklug oder nölig war ich nicht.
Erzähl mal von deinen Eltern.
So ein klassisches Einzelkind war ich nicht. Denn ich hatte eigentlich drei Mütter und einen Vater, meine richtigen Eltern und dann im selben Haus noch Zweiteltern, Mutter und Tochter Thiemann, denen das Haus in Bochum gehörte. Die haben mich wirklich wie eine Tochter behandelt und stark geprägt. Als ich ein Jahr alt war, fingen Mutter und Tochter Thiemann an, für mich mitzusorgen. Ich hatte also vier sehr enge Bezugspersonen, habe zum Beispiel ganz oft bei meinen Zweiteltern im Doppelbett, zwischen Mutter und Tochter Thiemann, geschlafen. Meine Eltern hatten dann ihre Ruhe.
Wurdest du verwöhnt?
Ja, ich bin mit extrem viel Liebe und Harmonie aufgewachsen. Und das heißt auch: ohne Streitkultur. Ich musste mich nie gegen jemanden durchsetzen. Ich kann mich aus meiner Kindheit auch nur an eine einzige Situation erinnern, in der meine Mutter mal richtig sauer auf meinen Vater war und sogar geheult hat. Das war furchtbar für mich. Das ist schon eine Art Grundverwöhnung, oder?
Würdest du sagen: „Ich hatte eine glückliche Kindheit.“?
Ja. In mir ist Glück.
Verwöhnst du gern?
Total gern. Es macht mich glücklich, wenn andere glücklich sind. Aber mich selbst verwöhne ich überhaupt nicht.
Fühltest du dich (oft) allein oder einsam?
Nee. Ich hab nichts vermisst, weil immer jemand da war. Ich bin aufgestanden und meine Mutter war da und es war super. Außerdem bin ich auf einer Straße aufgewachsen, auf der noch vier andere Mädchen ungefähr in meinem Alter wohnten. Wir waren ständig zusammen, unterwegs und draußen. Und – jetzt kommt’s: Ich hatte als relativ kleines Kind schon einen S/W-Fernseher. Ich habe jeden Abend die Sesamstraße und Telekolleg geguckt. Da lief immer ein Englischkurs oder jemand, der menschliche Organe auseinander nahm. Das hab ich mir immer angeguckt, mehr aber auch nicht. Es gab also für mich keine Einsamkeit. Ich hatte Menschen und einen Fernseher – und immer mal wieder Tiere: zwei Schildkröten, Tanzmäuse, zwei Kaninchen und Wellensittiche. Den Verlust dieser Tiere fand ich dann allerdings so furchtbar, dass ich irgendwann keine mehr haben wollte.
Beschreib mal, wie es früher war in eurer Familie. Zum Beispiel beim Verreisen.
Wir waren fast immer mit anderen Leuten im Urlaub, glaube ich. Wir sind zum Beispiel zu fünft nach Italien gefahren, also meine Erst- und meine Zweiteltern und ich.
Und wenn ich mal nur mit den Ersteltern wegfuhr, hab ich eigentlich immer schnell Anschluss und neue Freunde gefunden.
Wie war es, wenn Anja ungezogen war?
Ich war und bin nie ungezogen. Ich bin nur ausgezogen, mit 19. Nachdem ich mit 16 meinen ersten festen Freund hatte, haben meine Eltern mich nämlich nicht mehr so festgehalten und auf mich aufgepasst, wie sie es bis dahin gemacht hatten. Auf einmal haben sie mich losgelassen. Auf einmal durfte ich alles, sogar ausziehen.
Wie viele Geschenke gab es für dich an Weihnachten im Schnitt?
Von meinen Eltern immer ganz viele. Geschätzt: bis zu 30. Meine Zweiteltern haben mich immer besonders unterstützt, wenn ich wirklich dringend etwas brauchte, das für meine Zukunft wichtig war. Im Studium zum Beispiel einen Computer oder eine Kamera.
Hattest du viele Freunde, die Geschwister hatten?
Ja, und das fand ich auch immer super, dass die Geschwister haben; ich hab aber nie darüber nachgedacht, wieso ich keine habe.
Was ist das absolut Traurigste, das du als Einzelkind erlebt hast?
Einmal in der Grundschule und einmal so mit 15 oder 16 habe ich Ausschlüsse aus Mädchencliquen erlebt oder besser erlitten; also wirklich extremes Mobbing. Komischerweise bin ich da zwar immer als Verlierer rausgegangen, danach ging es mir aber immer besser und den anderen schlecht. Das hat mich stark geprägt. Ich habe unglaubliche Verlustängste. Auch ziemlich traurig: Ich war ab dem 3. Schuljahr praktisch immer verliebt. Und natürlich immer unglücklich. Ich habe Kladden voll geschrieben mit meinem Liebeskummer: „Heute habe ich ihn wiedergesehen, und er hat kurz in meine Richtung geguckt.“ Und so weiter. Ich habe mich ohne Ende gequält.
Wenn du allein im Zimmer warst: Was hast du am liebsten gespielt?
Ich hab vor allem viel gelesen.
Was wäre in deinem Leben anders gelaufen, wenn du Geschwister gehabt hättest?
Ich könnte besser streiten.
Wer ist der Mittelpunkt deiner Welt?
Ich, glaube ich. Obwohl ich immer ziemlich viel für andere mache.
Was fällt dir als Einzelkind zu folgenden Begriffen ein:
Überversorgung…
… Meine Eltern haben mich so geliebt und so harmonisch erzogen und versorgt, dass ich ihnen später einiges übel genommen habe. Ich durfte selbstverständliche Sachen nicht machen, durfte zum Beispiel nicht mit anderen zum Schlittschuhfahren. Da fahren die dir die Finger ab, hat meine Mutter gesagt.
Wut
Ich kann mich an einen krassen Pubertätswutanfall erinnern: Ich war mit 14 auf einem Depeche-Mode-Konzert und unglaublich verliebt in Martin Gore, diesen blonden Gitarristen und Sänger. Eine Woche später gab es noch ein Depeche-Mode-Konzert irgendwo in der Nähe, und ich wollte da noch mal hin, durfte aber nicht. Da war ich so sauer, dass ich meiner Mutter einen wirklich sehr, sehr bösen Brief geschrieben habe. Sie hat mich dann am nächsten Morgen heulend geweckt und mit mir über diesen Brief gesprochen.
Abendgebet
Ich war mit meinen Eltern sehr oft bei meiner Großtante in Bielefeld. Die hat meinem Vater ihr Haus vererbt. Das habe ich damals irgendwie mitgekriegt, obwohl ich bei der Entscheidung nicht dabei sein durfte. Ich war wahrscheinlich in einem anderen Zimmer, wusste aber, da geht es um das Haus und um Bielefeld. Ich hatte totale Angst, dass wir aus Bochum wegziehen. Von diesem Tag an hab ich jahrelang jeden Abend gebetet: Bitte nicht nach Bielefeld!
Du hast jetzt (bald) zwei Kinder. Wolltest du deiner Erstgeborenen das Einzelkindschicksal unbedingt ersparen?
Das Einzelkinddasein ist kein Schicksal. Ich glaube, ich möchte Clara nur ersparen, dass sie so überbehütet aufgezogen wird, wie ich aufgezogen wurde. Und wenn ich an mein Schicksal denke: An dem Tag, als Clara geboren wurde, ging mir so ein Satz durch den Kopf: „Jetzt hab ich dem Tod ein Schnippchen geschlagen.“
Und mit zwei Kindern: zwei Schnippchen?
Ja, damit hab ich’s noch gefestigt.
Ein Gespräch mit Lisa Magel, Geschwisterkind
Du hast acht Geschwister.
Ja, Paul, Pamela, Julie, James, Thomas, Erin, Michael, Nicholas. Der jüngste ist 28 und der älteste dürfte um die 46 sein. Die ersten vier Kinder sind alle ein Jahr auseinander, dann 20 Monate, 20 Monate, ein Jahr, dann vier, zuletzt fünf Jahre. Ich bin Kind Nummer fünf, direkt in der Mitte.
Wie sah denn ein Familienfrühstück bei euch früher aus? Ihr wart zu elft?
Zu zehnt. Mein Vater war Arzt, also fast nie zu Hause. Entweder war das Frühstücksmotto bei uns: komplette Selbstversorgung. Oder meine Mutter hat Cornflakes und Müsli serviert oder – als wir noch kleiner waren – etwas Warmes für uns gemacht: Eier, Speck, kleine Pfannkuchen, Toast, Haferbrei. Es war immer chaotisch morgens, immer ein Kommen und Gehen, weil die älteren Kinder früh in die Schule mussten. Es war nie so, dass wir uns gemeinsam zum Frühstück hingesetzt haben und gemeinsam aufgestanden sind. Das war eher eine Art Familienkantine. Und es war immer laut.
Wie war das Verreisen? Hatten deine Eltern einen Omnibus?
Damals gab es ja keine strengen Kindersitzvorschriften wie heute. Mein Vater hatte immer einen ziemlich großen Kombi, vorne saßen die Eltern und ein Kind, in der Mitte waren immer mindesten vier Kinder und in der hintersten, aufklappbaren Sitzreihe der Rest. Da wir nicht angeschnallt sein mussten, hingen wir natürlich zum Teil übereinander.
Und eure Reiseziele?
Einmal ging es mit dem Campingwagen nach New Mexico. Ansonsten haben wir uns öfter nach New Hampshire aufgemacht, vier Stunden Autofahrt. Da blieben wir dann für zwei Wochen in einem Haus zur Miete. Oder wir sind nach Vermont gefahren, in eine Art Ferienhausanlage mit Tennisplatz, Swimmingpool etc. Im Urlaub selbst war es immer sehr spannend. Vor allem, weil wir kaum beaufsichtigt wurden. Wir waren ziemlich frei.
Was ist gut daran, viele Geschwister zu haben?
Es ist immer jemand da, der dir helfen kann oder dem geholfen werden muss: bei Hausaufgaben oder beim Schlittschuhzubinden. Und es ist immer etwas Spannendes im Gang. Wir haben zum Beispiel Holzhütten im Wald hinterm Haus gebaut. Andererseits war ich mit zehn oder elf Jahren auch schon so etwas wie die Mutter für die beiden Kleinsten. Ich bin in der Nacht aufgestanden und hab sie gefüttert. Heute – als Erwachsene – erkennen wir, dass wir uns als Kinder auch gegenseitig erzogen haben.
Kannst du dir vorstellen, heute mit all deinen Geschwistern in einem Haus zu wohnen?
Auf gar keinen Fall. Das würde mich wahnsinnig machen. Wir sind als Erwachsene weit auseinander gegangen – und das war notwendig, damit wir alle unsere Ichs entwickeln können. Lustigerweise scheinen heute die am glücklichsten zu sein, die am weitesten von „zu Hause“ weg wohnen. Wir Geschwister genießen uns, wenn wir uns jetzt mal wieder treffen. Aber noch mal zusammen leben? Nee.
Gab’s innerhalb der großen Geschwistergruppe kleine Gruppen?
Immer wieder neue, altersabhängig. Meine zweitälteste Schwester spielte viel mit uns, als wir klein waren. Irgendwann gab es dann aber den Teenagerbruch (da war ich zehn und sie 13), und ab da habe ich mich dann den Kleinen zugewendet. Auch jetzt, als Erwachsene, bilden sich immer wieder neue Gruppen. Besonders spannend daran ist ja: Als Erwachsene lernen wir Geschwister uns als Menschen noch mal neu kennen. Ich habe einen Bruder und keine Ahnung, wer er wirklich ist, wie er tickt. Ich habe ihn eigentlich nur als Kind in meinem Kopf. Ich weiß nicht, was er tut, wie er als Vater oder als Mann ist. Er ist mir fremder als manche Freunde.
Das lustigste Geschwisterereignis?
Sehr lustig war und ist auch heute immer noch Thanksgiving. Das ist ein genialer Feiertag, weil es nur ums Essen und nicht um Geschenke geht. Da ist keine Eifersucht im Spiel, es ist einfach ein schönes Zusammenkommen. Wir sind dann immer mindestens elf, mit Verwandten oft 15 bis 20 Leute an einer langen Tafel. Einige meiner Geschwister sind superlustig, perfekte Stimmenimitatoren. Wenn die zusammenkommen und gut drauf sind, dann ist das besser als Fernsehen und Theater zusammen.
Würdest du sagen: Ich hatte eine glückliche Kindheit?
Ich empfinde meine Kindheit als toll und etwas ganz Besonderes. Aber mit Abstand muss ich auch sagen: Ich hätte an manchen Tagen gern etwas weniger Geschwister und etwas mehr Begleitung von meinen Eltern gehabt. Wir mussten viel alleine regeln, mussten sehr „Montessori sein“ (ohne, dass uns jemand gesagt hätte, was das ist).
Wer ist der interessanteste deiner Geschwister?
Für meinen jüngsten Bruder habe ich eine große Vorliebe, er ist 28, schwul, Schauspieler und lebt in New York City zurzeit ein sehr spannendes Leben. Aber ich könnte trotzdem nicht sagen, dass er interessanter ist als die anderen sieben.
Was fällt dir zu folgenden Begriffen ein?
Wut habe ich zum ersten Mal mit Mitte 20 richtig gespürt. Da habe ich ein Jahr lang nicht mit meinen Eltern gesprochen. Ich war so wütend auf sie, weil ich gespürt habe, dass ich sie immer in Schutz genommen habe. Sie machen ja nur ihr Bestes, es sind ja auch so viele Kinder, es ist ja auch viel Stress etc. Ich war auch so wütend, weil ich als Kind einiges entbehren musste, nur weil meine Eltern nicht verhütet haben. Jetzt habe ich keine Wut mehr gegenüber meinen Eltern. Auch nicht meinen Geschwistern gegenüber.
Ruhe
Es gab keine Ruhe. Ich hab zum ersten Mal allein gelebt, als ich 25 war. Erst da hab ich verstanden, was Ruhe ist. Als Kind hatte ich keine Rückzugsm.glichkeit im Haus. Ich musste mich mit Buch und Taschenlampe unters Bett verziehen. Oder ich bin raus und versteckte mich in unserer kleinen Holzhütte. Wir neun kommen auch jetzt als Erwachsene nicht komplett voneinander los, brauchen aber alle viel Ruhe, weil wir die als Kinder nie hatten. Das Natürlichste für mich ist Chaos, Lärm, Action, aber es ist nicht gut für mich. Das, was ich kenne, ist nicht das, was ich mag.
Gutenachtgeschichte
Wir haben eher nachmittags Geschichten gelesen. Abends ging es eher um Gebete. Meine Eltern waren sehr katholisch, es gab sozusagen Gebetpflicht. Meine Mutter hat mit jedem von uns das Abendgebet gesprochen. Bis zum Teenageralter.
Dein Lieblingsgebet?
Angel of God
My guardian dear
To whom God’s love commits me here
Ever this day
Be at my side
To light and guard
To rule and guide.
Das hab ich behalten. Da ist ein kleiner Engel, der uns hilft.